Seine blauen Augen, die im Alter nun ganz hell geworden waren, gingen bekümmert über die Bücherreihen hin, als gehe ihm nun die Erkenntnis auf, daß er diese Weisheit aller Zeitalter mißverstanden habe, weil sie ihn nicht vor dem Irrtum bewahrt hatte, daß das Geld etwas Bleibendes und Unveränderliches sei.
Aber Korsanke machte nur eine begütigende Bewegung mit seiner rechten Hand und fuhr fort, den Stillen Ozean zu betrachten, über den die feinen Linien des Gradnetzes liefen. »Mache dir keine Sorgen, Stilling«, sagte er. »Oder meinst du, daß Elisa vor einer Inflation die Waffen strecken wird? Ich habe noch nichts gesehen, wovor sie ihre Waffen gestreckt hätte. Und sie können nicht alle Studenten entlassen, die nicht ihre Taschen mit Gold gefüllt haben.«
»Ach, sie können alles, Korsanke«, erwiderte Stilling und legte seine mit Zahlen bedeckten Papiere übereinander. »Sie können Kriegsanleihen mit einem Strich zunichte machen und morgen eine neue Kriegsanleihe auflegen. Der Staat hat kein Gewissen, weißt du. Alle anonymen Mächte, hinter denen nicht ein einzelner Mensch steht, haben kein Gewissen. Schon wo zwei oder drei sich zusammentun, gibt es eine Firma oder einen Verein, aber kein Gewissen. Nur der einzelne hat es, du oder ich ... morgen will ich zum Herrn von Balk gehen, der denkt immer für sich allein, nicht wie die Zeitungen denken, wo es auch kein Gewissen gibt. Er hat Kühe und Felder, und Kühe haben keine Inflation.«
Korsanke nickte, aber seine Gedanken waren weit fort. »Meinst du, Stilling«, sagte er nach einer Weile und deutete auf den Stillen Ozean, »daß sie dort auch so leben? Die kleinen Dörfer, meine ich. Daß die Toten in den Tag hineinreichen, bis an die Türschwelle sozusagen, und daß das meiste nichtig und eitel ist?«
Stilling sah ihn prüfend von der Seite an und schob ihm dann den Tabakkasten zu. »Laß es gut sein, Korsanke«, sagte er freundlich. »Grüble nicht auf deine alten Tage. Sorge ein bißchen für die Gerechtigkeit, und das andere wollen wir dem Herrgott überlassen.«
»Ja, ja«, erwiderte Korsanke und stopfte sich langsam seine kurze Pfeife. »Aber siehst du, heute bin ich um den See geritten, und es war so ein seltsamer Tag. Es war so, weißt du, als wäre die Erde aufgetan, und ich konnte alles sehen, was verborgen war. Menschen, weißt du, und Lebensläufe, und Heimsuchungen ... ja besonders Heimsuchungen ...«
Und er sagte langsam das Lied auf, das die Kinder am Morgen in der Schule gesungen hatten. »Das singen sie nun, Stilling«, sagte er bekümmert. »Erst mußt du beten lernen, verfluchtes Humpelbein ...«
Der Lehrer lächelte hinter seinen Rauchwolken. »Laß es gut sein, Korsanke«, sagte er noch einmal. »Sie denken immer, daß sie wie Gott sind und ein kleines Dorf nur wie die ›Finsternis‹ in der Schöpfungsgeschichte, aus der sie eine neue Welt erschaffen könnten. Aber die kleinen Dörfer, weißt du, sind immer stärker als diese neuen kleinen Propheten. Denn ein Dorf besteht nicht nur aus Kindern, denen man Lieder beibringen kann. Ein Dorf besteht aus Alten und Jungen, aus Toten und noch nicht Geborenen, aus Sand und Wasser und Wald, aus Vergangenheit und Zukunft. Ein Dorf ist nämlich in die Ewigkeit eingebettet, wie ein Kind in seine Mutter, und solch ein Lied, Korsanke, macht der Ewigkeit nichts aus. Es ist nur wie ein einziger Wimperschlag in einem ganzen langen Menschenleben.«
»Ja, ja«, sagte Korsanke. »Aber siehst du, dann war da der Mann mit dem leeren Rockärmel ... und dann war die Jerominfrau vor dem Meiler ... und Kiewitts Pferd ... und zuletzt war der kleine Jons, wie er sich umdrehte und von mir fortging wie von einem Mörder, und ich war es doch nicht, der Michael erschossen hat ... ich will dir sagen, wie es war, Stilling: es war, als hätte Gott mich bei der Hand genommen heute früh, um mir zu zeigen, daß wir keine Haussuchungen halten sollen. Es ist nicht unser Haus, Stilling, es ist sein Haus!«
»Du mußt ein bißchen ausspannen, Korsanke«, sagte Stilling und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es kommen mal so Zeiten, siehst du, in denen die Uniform von uns abfällt, und sie braucht gar nicht bunt und glänzend zu sein wie deine. Das Angemaßte fällt ab, verstehst du? Das kleine Menschliche. Und wenn wir dann nackt sind, ist es uns plötzlich, als rühre Gottes Finger uns zum ersten Male an. Aber er hat uns immer angerührt, wir haben es nur nicht gemerkt durch die Uniform hindurch.«
»Und was will er? Weshalb rührt er uns an?«
»Vielleicht will er nur, daß wir die Augen aufmachen, Korsanke, so wie wir einen Schlafenden leise mit dem Finger berühren. Er will, daß wir seine Füße sehen, wie sie durch Zeit und Ewigkeit gehen. Nicht die neuen Lehren oder die neuen Lieder, nicht die leeren Rockärmel oder die leeren Augen. Sondern eben nur sein Füße, die vor uns hergehen wie eine goldene Spur.«
»Ja, vielleicht hast du recht«, sagte Korsanke nach einer langen Weile und drehte die Weltkugel langsam um ihre Achse. »Und vielleicht tut es deshalb auch wieder ein bißchen weh ...«
Stilling sah ihn bekümmert an. »Weshalb gehst du nicht zum Arzt, Korsanke? Es kann eine Kleinigkeit sein. Nach diesen Hungerjahren müssen solche Dinge kommen, und du würdest dann doch beruhigt sein.«
Der Gendarm schüttelte den Kopf und stand auf. »Ich warte, Stilling«, sagte er. »Ich warte auf Jons Ehrenreich. Ich denke mir immer, daß er wie ein Heiland zu uns kommen wird. Und siehst du, ich bin nun einmal ein bißchen komisch darin: ich könnte mich nicht ausziehen vor den Leuten in der Stadt. Zwölf Jahre bin ich Soldat gewesen, und da habe ich es ja oft genug tun müssen. Aber nun widersteht es mir. Es ist mir, als könnte ich das nur hier tun, in Sowirog, vor einem, der der Unsrige ist ... Hab nun schönen Dank, Stilling. Es ist mir doch leichter ums Herz. Und auf den Humpelbeinsänger will ich ein bißchen achtgeben, damit er nicht zu schnell wächst.«
»Das tu nur«, sagte Stilling gutmütig und begleitete ihn bis zur Tür. »Aber der liebe Gott wird schon dafür sorgen, daß er nicht zu schnell wächst. Er hat einen guten Zollstock, der liebe Gott.«
Dann sah er ihm noch eine Weile nach, wie er den Steig langsam hinunterging, ein bißchen gebeugt in den Schultern, wie niemand es bisher an ihm gekannt hatte. Und dann kehrte er an sein Pult zurück und schloß die Papiere in die Schublade.
»Aber qualmen muß er noch wie ein armer Mann, der Brot backt«, sagte Elisa und öffnete die Fenster. »Auch wenn Gott ihn schon gezeichnet hat.«
»Wen zeichnet er nicht, Schwester?« erwiderte Stilling. »Wir sind von Kindesbeinen an gezeichnet, nur daß wir es nicht sehen. Und das Rauchen gönne ihm schon. Für manchen ist Rauchen so gut wie ein Gebet.«
»Manchmal redest du wie ein Nebukadnezar«, sagte Elisa zornig. »Und manche Männer bekommen nur aus Versehen weiße Haare.«
Nach dem Abendessen setzte Stilling sich auf den kleinen Balkon unter dem Dach, der wie ein Vogelbauer aussah. Es gab nicht viel mehr Platz als für den alten grünen Ohrenbackenstuhl, aber von hier aus lagen Dorf und Wald und See fast wie auf einer Landkarte ausgebreitet, und für einen alten Mann, der sein Leben hier zugebracht hatte, war es schön, hier zu sitzen und zuzusehen und zuzuhören, wie der Friede des Abends über die Erde kam. Es gab keinen Giebel, von dem er nicht wußte, was er bedeckte, und keinen Ton im Dorfe, von dem er nicht wußte, wohin er gehörte und was er bedeutete. Das Abendrot stand groß und feierlich über Wasser und Wald, und die Welt sah aus wie aus Glas gesponnen. Ein durchsichtiges und zerbrechliches Sein, und die Kette der Kraniche über dem Moor erschien wie ein feiner Sprung im Glase, der sich mit einem leisen Tönen weiterfraß nach dem Horizont.
Eine schrille, scheltende Stimme drang von einem der Hofräume bis an das Zwergenhaus, und Stilling wußte, daß es die alte Frau Kroll war, die ihr Altenteil verteidigte. Das böse Herz des Dorfes, und weder Krieg noch Hungersnot würden sie dämpfen. Ein zweistimmiges Lied vom Seeufer, langgezogen und traurig, und eine helle Kinderstimme ging wie eine Vogelschwinge darüber hin. »Es dunkelt schon auf der Heide«, sangen sie. »Nach Hause wollen wir gehn.« Das waren die Frauen aus dem Jeromin-Haus, und die Kinderstimme gehörte der kleinen Barbara. Das Mädchen aus dem Nachbardorf, um das Friedrich gestorben war, sang nicht mehr. Es saß wohl still dabei, wie es unter Menschen zu tun pflegte, die Hände im Schoß gefaltet, und blickte nach der Insel hinüber. Es hatte einmal eine Flöte gehört, die einen Zauber über Menschen und Tiere geworfen hatte, und danach sang man nicht mehr. So ein wunderliches Haus ..., dachte der alte Lehrer, und noch ist es nicht zu Ende mit den Wundern ...
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