1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Es gab Gelegenheit genug für die Professoren, auf eine schamlose Weise Dinge vorzutragen und zu demonstrieren, die sie anders hätten vortragen können, und der betonte Beifall der männlichen Hörer war ein billiger Lohn für die Gewagtheit ihrer zynischen Scherze. Es gab viele, die sich gänzlich fern davon hielten und die sich damit begnügten, ihre weiblichen Zuhörer zu übersehen. Aber einige von ihnen versäumten keine Gelegenheit der Quälerei an Wehrlosen, und bei dem rohen Gelächter der Beifallspendenden pflegten sie mit einer Miene des Erstaunens aufzublicken, als sei dies ganz gegen ihren Willen mißverstanden worden. Besonders der Gynäkologe, ein schwerer Mann mit einem von Narben durchpflügten Gesicht, war ein Meister solcher eiskalten Spaße, als wollte er sich am ganzen weiblichen Geschlecht für die Mühe schadlos halten, die es ihm in seiner Klinik bereitete.
Jons hatte zuerst gar nicht verstanden, worum es bei solchen Anlässen ging. Er hatte von seiner Zeichnung aufgesehen, als sei ihm etwas entgangen, woran die anderen Freude hatten, und erst als er einmal sah, wie ein junges, stilles Mädchen neben ihm die Hände unter der Bank zusammenkrampfte, indes Tränen aus den gequälten Augen schossen, begriff er, was vorgegangen war und sah mit bösen Augen zu dem Professor auf. Er trug dies ein paar Tage mit sich herum, nicht mehr als den dumpfen Groll eines Menschen, dem man Schmutz in sein sauberes Haus wirft, und er war dabei, es als eine Erscheinung der gedankenlosen Roheit zu den übrigen Erscheinungen zu legen.
Aber als nach ein paar Tagen bei der Behandlung des weiblichen Beckens von den lächelnden Lippen des Professors ein Wortspiel von außergewöhnlicher Schamlosigkeit fiel, ein wohlvorbereitetes, wie man leicht merken konnte, und das Mädchen neben Jons mit einer unwillkürlichen Bewegung die Hände vor das Gesicht legte, wie um sich vor einem Steinwurf zu schützen, überkam ihn das jähe Erbteil seiner Mutter, so daß er in dem Lärm von Gelächter und Hohn aufsprang, sein Hefte zusammenraffte und aus der Bank heraustrat, in der man ihm bestürzt Platz machte. In dem jähen und lautlosen Schweigen des Raumes sah er den Vortragenden an, der vor seinen finsteren Augen erblaßte, und sagte laut und bis in den letzten Winkel wahrnehmbar: »Gehorche deinem Vater, der dich gezeugt hat, und verachte deine Mutter nicht, wenn sie alt wird!« Und er wußte nicht, wie dieser Vers aus den Sprüchen Salomonis ihm auf die Lippen gekommen war. Er wußte nachher nur, daß er ihn vor langen Jahren am Meiler gehört hatte, und sein Vater ihn gesprochen, als Gotthold in die Stadt gezogen war.
Danach verließ er, ohne sich umzusehen, den Hörsaal.
Es bedrückte ihn. Nicht daß er gegen die Ordnung gehandelt hatte, sondern daß er im Jähzorn gehandelt hatte, nicht viel anders als seine Mutter, wenn sie zugeschlagen hatte, und er war zu bescheiden, um zu erkennen, daß es nicht dasselbe war.
Er wurde schon am nächsten Tag vor den Universitätsrichter gerufen. Er war als ein ernster, strenger Mann bekannt, und man wußte, daß er beide Söhne im Krieg verloren hatte. Er ließ Jons mit einer Handbewegung Platz nehmen und sah ihn schweigend an. Hinter einer bläulich gefärbten Brille waren seine Augen nicht zu erkennen, und Jons wußte nicht, was für ein Blick auf ihn gerichtet war. Aber er fühlte, daß nichts Böses in diesen schmalen Lippen war, nur ein Gram, der das Gesicht wie erfroren scheinen ließ. Die blutlosen Hände spielten mit einem Bleistift.
Dann schob der Richter ein paar Akten zur Seite und beugte sich vor. »Wo steht das geschrieben?« fragte er leise. »Das von Vater und Mutter?«
»In den Sprüchen Salomonis, Herr Geheimrat«, antwortete Jons.
Der Richter nickte ein paar Male und sah aus dem großen Fenster, wo die Äste einer alten Birke im Winde wehten.
»Und woher wußten Sie das?« fragte er weiter.
»Mein Vater hat es gesagt, vor vielen Jahren, als mein Bruder in die Stadt gegangen war.«
»Und wer war Ihr Vater?«
»Mein Vater war ein Köhler und besorgte den Meiler für den Herrn von Balk.«
»Ein Köhler ...« wiederholte der Richter, und nun war er doch ein wenig überrascht.
»Er las in der Bibel?«
»Ja, Herr Geheimrat.«
»Und was tut er jetzt?«
»Er liegt in Rußland.«
Nur ein leises Zucken um die schmalen Lippen, als hätte jemand mit einer Nadel heimlich in den regungslosen Körper gestochen. Dann nahm er die Brille ab, und ein paar sanfte Augen sahen Jons an, die wie ertrunken in ihrer verborgenen Trauer waren. »Ich muß Ihnen einen Verweis erteilen«, sagte er leise, »nicht weil Sie es gesagt haben, sondern weil Sie die Vorlesung gestört haben ... aber ich wünschte, daß Sie mein Sohn wären.«
Eine stille Handbewegung, und Jons ging hinaus. Die Kehle war ihm zugeschnürt, und er konnte kein Wort sprechen.
Er schrieb es an Stilling, und dieser antwortete, daß er sich an die Geschichte mit dem Schalksknecht erinnern möge. Wer im Rechten angetreten sei, gehe auch im Rechten weiter, nur daß die Majestätsbeleidigungen langsam schwerer würden. Aber wer sich an Wehrlosen vergreife, müsse gezüchtigt werden. Das unterscheide den Edelmann vom Knecht, und so solle er es weiter halten.
In den Vorlesungen geschah nichts mehr desgleichen, und das Mädchen gab ihm vor aller Augen die Hand. Der Professor sah nicht nach seiner Ecke hin, und die Studenten ließen es bei einer Art von achtungsvollem Grinsen bewenden. Es sahen ihm nun viele nach, wenn er in den Pausen den Korridor entlangging.
Aus seiner anfänglichen Bedrücktheit kam er langsam in eine stille und beglückende Fröhlichkeit hinein. Nicht durch das, was er gesagt hatte, sondern durch das, was der Universitätsrichter gesagt hatte. Sein Herz war ihm leicht und gleichsam der Zukunft gewiß. Er bestand seine Semesterprüfungen mit einer ungewöhnlichen Auszeichnung, aber er wußte, daß er eine schwerere Prüfung bestanden hatte.
Und so fuhr er fröhlich in seine ersten Ferien.
Es waren die großen Ferien, denn zu Ostern war er in der Stadt geblieben. Das Anatomische Institut war umgeräumt und neu geordnet worden, und es war ihm gelungen, einen der Helferposten zu bekommen. Er verdiente etwas Geld damit, ein paar alte Präparate, ein paar zerlesene Bände, und einmal war der alte Geheimrat bei ihm stehengeblieben, hatte nach seiner Arbeit und seinem Zuhause gefragt und dann eine Weile aus den bestaubten Fenstern gesehen. »Auch bei uns gibt es Kärrner«, hatte er dann gesagt, »aber ich sehe Ihnen schon ein paar Wochen zu. Es gibt nicht viele, denen ich gern zusehe, und einmal wird Ihr Dorf Freude an Ihnen haben ... wie heißt es doch ... Sowa ...«
»Sowirog, Herr Geheimrat.«
»Sowirog, ja ... alles slawische Namen ... und was bedeutet es?«
»Der Eulenwinkel, Herr Geheimrat.«
»Der Eulenwinkel, ja ... dort wird keiner von diesen jungen Herren hingehen ... Sie werden allein sein dort, Jeromin, allein mit Ihrer Kunst und Ihrem Gewissen. Denn das gibt es wohl dort noch, ein Gewissen, nicht wahr?«
»Ja, das gibt es, Herr Geheimrat.«
Dann nickte der alte Mann ihm unmerklich zu und ging mit seinem schweren, schleppenden Gang in den nächsten Raum, wo das Gelächter der Helfer plötzlich verstummte.
An dieses Gespräch dachte Jons, als er am Waldrand stand und auf Kiewitts Acker blickte. Er hatte sich nicht angemeldet und war zu Fuß gekommen. In der Erntezeit gab es keine Fuhrwerke in Sowirog.
Er stand eine Weile, auf seinen Stock gestützt, und sah zu, wie Kiewitt die mageren Korngarben auflud. Das weiße Pferd drehte den Kopf und sah ihm entgegen. Es war wachsamer als ein Schäferhund.
Ja, das gibt es hier noch, dachte Jons, und das wird es wohl noch eine Weile geben ...
Niemand war da, der Kiewitt hätte helfen können, aber er lud die Garben so sauber auf, daß er auch keiner Hilfe bedurfte. Er konnte alles allein, Kochen, Säen und Pflügen, und sicherlich würde er auch allein sterben können.
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