1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 »Ganz neu«, erwiderte Balk. »Wußtest du nicht, daß sie mich den ›roten Balk‹ nennen? Meine Standesgenossen?«
Nein, das wußte Jons nicht, und er glaube auch nicht ganz, daß das wahr sei.
Er auch nicht, meinte Balk. Aber für manche Leute sei derjenige schon rot, der einen Stock statt einer Reitpeitsche trage. »Die neue Zeit, Jons«, sagte er. »Auch zu uns ist sie gekommen. Unglaublich, wo sie überall hinfindet. Sogar in den Eulenwinkel!«
Aber er habe noch nichts davon bemerkt, erwiderte Jons.
»Medizineraugen fangen erst beim Mikroskop an«, sagte Balk spöttisch. »Sieh dir euren neuen Pestalozzi an! Das ist der Keimträger der neuen Kulturen. Landschullehrer waren immer Keimträger, so oder so. War hier und beschwerte sich, daß die Kinder beim Kartoffelsetzen helfen müssen. Sei eine Mißachtung des Geistes, meinte er. Eine Versklavung der Unmündigen. Konnte schöne Sätze sagen, Des-dur mit Pedal. Fragte ihn, ob er lieber Kartoffeln oder Unmündige zum Abendbrot esse. Zog die roten Augenbrauen hoch, als ob ich vom Monde gefallen wäre, ihm gerade vor die Füße.«
»Und wie ging es aus?« fragte Jons belustigt.
» Es ging nicht aus«, erwiderte Balk, »sondern er ging aus. Der Papagei nämlich. Muß ihm etwas verdächtig vorgekommen sein, denn plötzlich saß er auf dem Pestalozzihaupt und flog mit der Perücke davon. Hatte es selbst kaum bemerkt. War alles so glatt an dem Burschen, daß auch dies in einem hinging. War eine große Jagd, weil er auf der Platonbüste saß mit seinem Raube. Hielt ihn wahrscheinlich für eine Platonische ›Idee‹. Rief den ganzen Hof zu Hilfe. Zeugen machen so etwas lustiger. Er stand wie ein kochender Seehund dabei. Mit abgekrümelter Würde. Tröstete ihn, daß Papageien unmündig seien, gerade so wie Kinder. Schließlich überreichten wir sie ihm wieder, etwas derangiert. Stülpte sie auf und schoß wie ein Bolzen aus der Bibliothek. Die Leute grinsten, und der Papagei kreischte natürlich ›Idiot!‹ Findet immer das Passende ... Ist nie wiedergekommen.«
Jons lachte, und Herrn von Balk fiel es plötzlich ein, daß er ihn lange nicht lachen gesehen hatte, Jahre wahrscheinlich.
»Aber die anderen«, fragte Jons, »Daida und Gonschor, und das Dorf eben, nennt man sie auch die ›Roten‹?«
Herr von Balk zog die Augenbrauen hoch. »Immer gemeint, daß Studium ein gefährliches Handwerk ist«, sagte er. »Ärzte sollen nicht farbenblind sein. Noch nicht gewußt, Jons, daß die Armut grau ist? Begehrlichkeit ist rot, und Dummheit ist schwarz, aber die Armut, mein Freund, war immer grau, und das wird auch die Farbe in Sowirog bleiben. Nein, der Volksbeglücker und sein Freund Czwallinna sind vorläufig die einzigen. Natürlich möchten die anderen eine ganze Menge haben, mehr Lohn und mehr Weide und mehr Hasen, aber sie trauen der Geschichte nicht. Siehst du, der Kaiser ist unabsetzbar für solch ein Dorf. Sie begreifen nicht, daß Leute ihm die Krone nehmen können, Leute, von denen sie nie gehört haben. Sie meinen, daß es da eine Rechenschaft geben wird, wie bei einer Brandstiftung oder einem Pferdediebstahl, und deshalb machen sie das lieber auf eigene Faust, mehr Weide und mehr Hasen zum Beispiel. Das sind sie gewohnt, und das geht im stillen ab. Die anderen reden ihnen zuviel.«
»Und hier, bei Ihnen, Herr von Balk?«
»Ja, hier ist das schon ein bißchen anders. Nicht bei den alten Leuten, aber bei denen, die ein paar Jahre in Gefangenschaft waren. Da hilft denn nichts, als ihnen vom Deputat abziehen, wenn sie streiken wollen. Kartoffeln und Roggen, das sind reale Dinge, realer als Geld. Und schließlich hilft gegen die Phrase nur eines, Jons: das Wort. Das richtige, klare, ruhige Wort. Das ist natürlich immer noch eine Macht. Stärker als Gendarmen. Und das Beispiel, Jons! Czwallinna und der Volksbeglücker geben schlechte Beispiele, und daran scheitert die Färbung hier, die richtige, meine ich, und für die richtige ist es die höchste Zeit in diesem sogenannten Ostelbien.«
Dann fragte Jons noch, ob Herr von Balk es für richtig halte, daß er von nun an während der Ferien in eine Fabrik gehe, um Geld zu verdienen und etwas von der »akademischen Würde« abzustreifen.
Aber Herr von Balk hielt es für ganz und gar falsch. »Das sind so moderne Mätzchen, Jons«, sagte er. »Für das Geld werde ich sorgen, denn Stilling wird bald aufhören damit, wie ich die Entwicklung sehe. Er hat seine Pension und sein Erspartes, aber ich habe Felder und Herden und Wald, und das ist ein gewaltiger Unterschied. Das ist der Lohn der Erde, sozusagen, und der ist unveränderlich. Und das andere ist einfach Unsinn. Würde hast du genug, aber keine akademische, und diese Art von Würde streifst du nicht ab, hoffentlich nicht. Und wer in Sowirog aufgewachsen ist, und dazu im Jeromin-Haus, weiß von Gott und von der Armut so viel, daß die Universitätsprofessoren Deutschlands von ihm lernen können ... aber reiten könntest du wieder ein bißchen mit mir.«
Jons schüttelte den Kopf. »Erstens habe ich zu arbeiten, Herr von Balk«, sagte er, »vom Morgen bis zur Mitternacht. Und dann kommt es mir nicht zu, zu reiten, wenn andere auf Krücken gehen. Ihnen kommt es zu, und Korsanke auch, aber nicht mir.«
Auch bei Piontek hatte Jons gesessen, am Abend, bevor er die Herde eintrieb. Piontek trug noch immer silberne Ohrringe, und seine Hände, mit denen er Pilze auf die Holzkohlen legte, waren wie Baumrinde anzusehen. Er erzählte nicht viel, denn vom Unveränderlichen ist nicht viel zu sagen, aber er war derjenige, der am meisten von allen wissen wollte. Ob die Professoren vierspännnig in die Universität führen und ob sie mit »Gnädiger Herr« angesprochen würden. Ob es wahr sei, daß sie Tote zerschnitten auf großen Tischen und nachher wieder lebendig machten, und dann fehle meistens ein Stück, ein Bein, oder ein Arm, oder gar das Herz. Und ob es wahr sei, daß vor einer Taglöhnersfrau nun jeder aufstehen müsse, wenn sie in ein Theater komme, und sich erst hinsetzen dürfe, wenn sie sich auf ihren Hintern gesetzt habe.
Jons versuchte, ihm seine Arbeit und sein Leben zu erklären, aber es gelang ihm nicht recht. Piontek kannte das Dorf und das Moor, die Jahreszeiten und seine Herde. Er kannte den Urgrund der Schöpfung und den Ablauf uralter Gesetze. Aber er konnte sich nicht vorstellen, wie die Menschen dort lebten, wenn sie am Morgen über ihre Schwelle traten, und ein großer Wagen ohne Pferde klirrte an ihnen vorüber. Oder zehntausend Menschen zogen in einem einzigen Zuge durch steinerne Straßen und hielten Stangen in den Händen, und auf den Stangen war etwas zu lesen. Und am wenigsten konnte er begreifen, daß Mädchen neben Jons in den großen Sälen saßen, richtige Mädchen, »mit Kopftüchern und Schürzen«, wie er sagte, und das hielt er für eine richtige Lüge.
»Du flunkerst, Jons«, sagte er und schüttelte mißbilligend seine Ohrringe. »Die olle Baronsche hinterm See, wo mein Schwesterkind im Dienst ist, die soll ja auch eine Menge Schrauben los haben. Spielt auf der Fiedel und raucht Zigarren wie der Herr von Balk. Aber das hat sich noch keiner von ihr zu sagen getraut, daß sie mang das Mannsvolk 'rumgesessen und an Toten 'rumgeschnipselt hat.«
Auch das versuchte Jons ihm zu erklären, aber Piontek lächelte nur listig. »Du hast das von Jakob«, sagte er schließlich wie erleichtert. »Der war ein zuverlässiger Mann, aber manchmal konnte er so Dinge erzählen, daß dir die Augen übergingen. Dann kam es wohl über ihn, der Meiler und der dunkle Wald und daß er mit keinem Menschen sprach als mit sich selbst. Und so kommt es wohl auch über dich, und du weißt es nur nicht.«
Dabei blieb es nun, aber bevor sie das Feuer löschten, nahm der alte Hirt Jons vorsichtig am Arm. Eine Rohrdommel rief im Moorwasser, und Piontek deutete mit seinem weißen Kopf in die Richtung des dumpfen Rufes. Sein Gesicht nahm den geheimnisvollen Ausdruck an, der seine alten Geschichten begleitete, und Jons war es immer, als komme dann plötzlich das tausend Jahre Alte zum Vorschein, das in Großvaters Augen gewesen war und das tief unter dem Sandboden des Dorfes schlief, in den Särgen, die übereinander standen und zu Staub zerfielen.
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