Am schönsten aber, am »allerschönsten«, wie Barbara sagte, war es, wenn sie einmal im Monat auf die Krebsjagd gingen. Dann hatte Johannes alle Fugen in dem großen grauen Kahn gedichtet und den Boden mit Kalmus bestreut, hatte kleine Weißfische und Frösche gefangen, deren Fleisch unter Wasser weißlich leuchten sollte, die kleinen Fangnetze nachgesehen und die an einem Ende aufgespaltenen Haselnußstöcke zusammengelegt, an denen der Köder befestigt wurde. Dann wurde Christean in das Boot getragen, und während die Frauen ihnen vom Ufer nachblickten, fuhren sie ab.
Hinter der Insel stiegen sie ans Ufer, alle nun fiebernd vor Aufregung, und Christean steuerte das Boot langsam in das schwarze Fließ, das düster und fast ohne Bewegung unter Erlenwipfeln dahinfloß und wo in schwarzen Höhlungen und unter grauen Wurzeln die Krebse wohnten. Hier war eine fahle, geheimnisvolle Landschaft, Ausläufer des Moores mit Hügeln, auf denen alte Eichen wuchsen; Binsenwälder, deren Halme sich immer unheimlich rührten, von unsichtbarem Getier, das verstohlen an sie streifte; Rohrweihen, die niedrig und lautlos über die Schilfhalme glitten, und Kraniche, die sich plötzlich mit tönendem Schrei bläulich aus der Rohrinsel hoben. Von den grauen Wipfelästen der Eichen schwang sich der Schreiadler oder der Wanderfalke ab, mit klagendem Ruf, der wie aus einem anderen Himmel herabfiel, und die Kinder standen atemlos, mit ihren Netzen und Fangstöcken beladen, und nahmen mit großen Augen diese fremde, gefährliche Landschaft in sich auf, die wie ein anderer Erdteil war, und selbst der Ruf des Wiedehopfes, der sie doch jeden Morgen weckte, klang hier wie der Ruf eines Zauberers, der sie zu Schritten verlockte, die in die Seligkeit oder auch ins Verderben führen konnten.
Nur der Gogunsohn blickte still, mit schwermütigen Augen, in die braune, flimmernde Ferne, und er mochte wohl den dunklen Flecken im Moor erblicken, an dessen Rand ein Haselhuhn lag und an dem die leeren, gelbglänzenden Patronenhülsen das Ende eines Lebensweges bezeichneten.
Dann rief Jons sie mit einem fröhlichen Wort in die Wirklichkeit zurück, und dann verteilten sie sich lautlos am Ufer des Fließes, steckten den Köder in das Haselnußholz und dieses unter dem schwarzen Wasser in die Uferböschung, so daß das weißliche Fleisch eine Handbreit unter der Oberfläche leuchtete. Dann kauerten sie sich im hohen Grase nieder, das Fangnetz an einem langen Stiel in der zitternden Hand, und warteten. Dann stahl Barbaras Hand sich wieder in die ihres Beschützers, und wieder fühlte er ihr Herz schlagen, wenn aus den Höhlungen unter den Erlenwurzeln die ersten Schatten herauskamen und sich langsam und vielgliedrig auf die schimmernde Speise hinabbewegten.
Selbst Jons fröstelte es ein wenig, wenn er auf das gespenstische und lautlose Sichregen der Totenesser niederblickte, und während er die linke Hand fest und tröstlich um das zarte Handgelenk des Kindes schloß, schob er mit der Rechten langsam und unmerklich das Fangnetz unter das dunkle Gewühl, das um den Köder tastete, und hob nach einer atemlosen Pause mit einer jähen Bewegung das Ganze in die Höhe, Netz und Köder und Wasserblasen und ein Dutzend schwerer, feucht gepanzerter Krebse, während die Entkommenen in wilder Flucht wieder in die schwarze Tiefe hinunterschossen.
Dann atmete das Kind wie aus einem bösen Traum auf, und der Jubel deckte das leise Grauen zu, auch wenn es schnell ein paar Schritte zurücktrat, wenn Jons die Beute in den geflochtenen Korb schüttete und mit frischen Brennesseln zudeckte.
»War es schön, kleine Barbara?« fragte er und strich ihr über das Haar.
Sie behielt seine Hand eine Weile an ihrer Brust und seufzte tief auf. »Ganz schrecklich schön, Onkel Jons!« erwiderte sie.
Das war der große Krebsfang, das wilde Abenteuer ihrer jungen Herzen, und selbst Micha blickte mit strahlenden Augen von einem zum andern, wenn er seine Beute vorwies. Keiner von ihnen aber erreichte den Sohn Goguns, der wie ein Zauberer des Moores an sich lockte, was er wollte, und dem alles gehorsam zu sein schien, was hier auf und unter der Erde war.
Dann halfen sie Christean aus dem Kahn und saßen unter einer der alten Eichen, das Schwarzbrot mit dem Erdbeermus in den Händen, und es dauerte lange Zeit, bis ihre Erregung vorüber war und das große Schweigen der Landschaft sie wieder umschloß. Immer Neues und Seltsames erschien unter dem hohen, dunstigen Himmel: ein schwarzer Storch, der in großen, ruhigen Kreisen sich über das Moor schraubte; ein Kolkrabenpaar, wie dunkle Adler anzusehen, und Johannes kannte seinen verborgenen Horst; der Fischadler, der vom See zurückkam, und der gekrümmte Fisch in seinen Fängen schimmerte wie ein Silberreif, und einmal ein Zug von Kronschnepfen, deren hoher, klagender Ruf wie aus den letzten Bezirken des Himmels herniederfiel und die Lauschenden einsam und verloren zurückließ.
»Wieviel hier geschieht ...«, sagte der kleine Micha und wendete die ernsten Augen wieder vom Himmel auf das bräunliche Moor zurück.
»Es gibt dort einen Weg«, begann Johannes nach einer Weile und deutete auf die Binsenwälder, »ich habe ihn gefunden, und keiner weiß ihn außer mir. Rechts und links ist das Grab.«
›Er spricht wie ein alter Mann‹, dachte Jons und sah ihn von der Seite an. »Du solltest vorsichtiger sein, Johannes«, sagte er.
Aber Johannes blickte weiter mit seinen schwermütigen Augen nach dem Binsenwald. »Ich habe ihn mit kleinen Ästen gezeichnet«, fuhr er fort, »und die Rinde von ihnen fortgenommen, damit sie auch nachts zu sehen sind. Man weiß nicht, wozu man es brauchen kann ... man kommt tief ins Moor hinein. Keiner kann einen mehr sehen. Dort habe ich eine kleine Hütte gebaut, aus Rasen und Schilf. Kein Regen kommt durch das Dach. Wenn man die letzten Zweige herauszieht, ist man allein ...«
Sie starrten ihn alle an.
»Aber wozu?« fragte Jons.
Johannes blickte mit seinen traurigen Augen über das Moor hinaus nach Osten. »Wenn sie kommen ...«, erwiderte er wie im Traum.
»Wer soll kommen?« fragte Christean.
»Die mit den kleinen Pferden ...«
Eine schmale Wolke glitt über die Sonne und dämpfte das Licht. Es war nicht das erstemal, seit sie hier saßen, aber es war ihnen, als hätten sie es vorher nie gemerkt. Ein schmaler Schatten glitt über das Moor, über Schilf und Binsen, verdunkelte das Fließ für einen Augenblick und wanderte dann zum Hochwald hin.
Sie schwiegen bedrückt, und alle außer Johannes folgten mit ihren Augen der schmalen, lautlosen Spur. Es war, als ginge jemand ohne Füße über das Moor.
Dann legte Christean seine Hand auf Johannes' Schulter und lächelte ihm zu. »Der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann ...«, sagte er leise.
Sie saßen dort, bis die Schatten länger wurden und stiegen dann wieder in den grauen Kahn. Eine Weile vorher hatte Johannes den großen Kochtopf genommen und war am Fließ entlang zum Ufer gegangen. Sie sahen von weitem, wie er Hose und Hemd abstreifte und dann ins Wasser ging. Sein schmaler Körper leuchtete hell vor dem dunklen Hintergrund. Mit einer Hand hielt er den großen schimmernden Topf vor sich im Wasser, mit der anderen schwamm er langsam nach der Insel, um Feuer zu machen und den Kessel mit Wasser aufzusetzen. Er dachte an alles, obwohl er in diesem Frühjahr erst siebzehn Jahre alt geworden war.
Sie folgten ihm langsam. Das Wasser war nun ganz still und dunkel, und an der Mündung des Fließes lagen die weißen Seerosen wie große Sterne auf der Schwärze.
»In jeder geht zur Nacht ein Elfenkind schlafen«, sagte Barbara und beugte sich über den Bootsrand. »Dann schließen die Blätter sich zu ... es ist wie in einem Haus.«
»Und wenn der Mond scheint?« fragte Christean.
»Wenn der Mond scheint, ist es, wie wenn die Mutter nebenan sitzt und die Lampe brennt noch.«
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