Die Sonne sank schon hinter den Wald, und das Kreuz des Großvaters auf der Insel schnitt mit den beiden schwarzen Balken in das erste Abendrot. Die Fische sprangen, und die hellen zitternden Kreise liefen bis unter ihre Ruder. Rauch stand über den Schornsteinen des Dorfes, und das Echo von Pionteks Rindenhorn lief rings die Wälder entlang.
»Siebenmal!« sagte Barbara andächtig und hob die Finger in die Höhe. »Ach, ich bin so glücklich ...«
Sie lächelten alle, aber sie verbargen es. Jons ließ einen Augenblick die Ruder sinken, und sie lauschten, wie das Kielwasser leise unter ihren Füßen dahinzog.
Das Feuer brannte schon, ohne Rauch, der Kessel stand in der Glut, und Johannes trug noch neues Holz hinzu. Eine Weile standen sie vor dem Kreuz des Großvaters, aber für Micha und Barbara war er nur ein toter alter Mann. Sie wußten noch nicht viel von ihm.
In der Ferne sahen sie Maria vom Moorrand zurückkommen, klein und armselig gegen den großen Abendhimmel. Dann fuhr Johannes hinüber, um die Frauen zu holen.
Der Abendstern stand schon über den Kiefern, als sie die roten Krebse aus dem Wasser nahmen. Sie zerbrachen die Scheren mit den Fingern und redeten einander zu, daß es herrlich schmeckte. Aber Krebse sind wohl kein Kätneressen, und Barbara drehte sich ab. Nein, sie mochte nicht. »Sie riechen«, sagte sie und zog die Schultern zusammen, als friere sie.
Und für alle war das Feuer schöner als die Krebse, dieser ganze herrliche Tag mit Vorfreude und Abenteuer, mit Wasser und Schilf und dem Ruf der fremden großen Vögel. Mit etwas Traurigkeit, die plötzlich da war und wieder ging, wie eine Wolke geht. Mit etwas Angst, die aus dem schweigenden Moor aufstieg wie ein kühles Gespenst, und soviel Sicherheit, wenn man Jons ansah. Mit etwas Müdigkeit, die sich aus der Glut des Feuers über sie legte. Aber, alles zusammengenommen, mit einem ungeheuren Glück, das sich schwer über die Herzen legte. Ein erfüllter Tag, ein ganz und gar erfülltes Leben, und eine unbewußte Ahnung von Traurigkeit, die hinter dem schwarzen Wasser stand. Wie ein Mensch hinter einer geschlossenen Tür.
Sie legten sich zurück und blickten zu den Sternen hinauf. Ab und zu schoß eine goldene Bahn aus dem Unendlichen herunter, ein glühender Streif, und sie warteten, ob es im Wasser aufzischen würde in einer Wolke von Dampf. Zuerst riefen sie ihre Wünsche hinterher, aber sie kamen immer zu spät, und das Schweigen war so groß, daß sie verstummten. Der kleine Hund bellte wieder hinter dem »Paradies«, und die Rohrdommel rief aus dem Moor. Die Erde und das Wasser atmeten, und mitunter kam es warm aus dem Walde herüber, ein Luftstrom, der die Flamme leise zur Seite neigte, und es roch nach Erdbeeren.
Dann sangen sie leise, und auch der Gesang war nur ein Teil der Erde und der Nacht. Ihre Gesichter waren rötlich vom Feuer beschienen, die Grashalme, der Rand des Schilfes. Dahinter war eine abgründige Schwärze, und nur vor dem westlichen Himmel zerlegte die Erde sich wieder in Himmel und Wald.
Jons sah zu, wie die Sterne sich neigten und andere Bilder über den östlichen Erdrand stiegen. War es nicht genug der Welt in diesem kleinen Raum? Das Grabkreuz des Großvaters und darunter die Kinder, die mit glänzenden Augen in die Flamme blickten? Sterne und Wasser, das die Sterne spiegelte? Ach, er wußte wohl, daß es nicht genug war, aber es war schön, es zu denken. War er je so jung gewesen wie diese Kinder, deren Atem seine Wange streifte? Er mußte es wohl, aber er hatte es vergessen. Der schwere, einsame Lauf der jungen Jahre, und nun lag er und atmete, so langsam und tief, wie die Erde atmete.
Er streckte leise die Hand aus und legte sie auf Marias Hand. Sie erzitterte kaum merklich unter der Berührung und lag dann still. Dasselbe Blut floß in ihnen, dasselbe Schicksal, dieselben Toten.
Ein neuer Stern schoß hernieder, und die kleine Barbara legte aufseufzend ihre Wange an Jons' Schulter. Sie schlief schon, ehe die Bewegung zu Ende war ...
Im Spätherbst ging Jons wieder in die Stadt. Die Frauen von Sowirog standen in den Türen und winkten ihm. »Geh mit Gott, Jons!« riefen sie. »Geh mit Gott!«
Die Mutter küßte ihn nicht, aber sie nickte ihm zu. Er hatte sie am Meiler gefunden, wie sie die Hand um Jakobs rußige Fichtenstange hielt. Sie stand wie eine Träumende. »Manchmal ist mir«, sagte sie abwesend, »als halte er das andere Ende ...«
»Rara avis«, sagte der Dekan der medizinischen Fakultät, als er Jons das Zeugnis über das bestandene Physikum überreichte. Sein glattes, hochmütiges Gesicht war nicht ohne Freundlichkeit, aber selbst die Freundlichkeit war ein bißchen spöttisch. »Rara avis, weil man zugleich im Medizinischen wie im Moralischen eine Leuchte sein kann.«
Jons sah ihm ruhig in die kühlen grauen Augen.
»Und was wird nun werden, junger Kollege? Sie könnten wahrscheinlich eine Zukunft haben ...«
Die denke er auch zu haben, erwiderte Jons. In seinem Dorfe namens Sowirog.
Der Professor schüttelte den Kopf. Es gebe nur eine Zukunft in der Medizin, sagte er, und das sei die Chirurgie. Alles andere sei Geburtshilfe.
»Zukunft genug, Herr Professor«, sagte Jons und faltete sein Zeugnis zusammen.
Der Dekan lächelte wie zu einer Kinderantwort. »Auch auf unsere Ideale fällt der Staub«, erwiderte er. »In zehn Jahren werden Sie wissen, was Zukunft ist und an mich denken.«
Aber Jons dachte nicht mehr an ihn als an andere, auch nicht, wenn er vor der Klinik seinen glänzenden Wagen sah, mit einem Chauffeur, der auf die Studenten blickte, als seien sie Bäume an einer geraden Straße.
Er schickte keine Telegramme nach Sowirog, denn sie kosteten schon Tausende, und »Tausend« schien ihm immer noch eine ungeheure Zahl, auch wenn man nur eine Briefmarke dafür kaufen konnte. Er wußte nicht, ob der Vater je diese Zahl gekannt hatte.
Aber er schrieb ein paar Postkarten und saß eine halbe Stunde ohne Arbeit auf dem Sofa in Jumbos Zimmer, die Augen auf die Bücherreihen gerichtet und auf das, was er dahinter sah. Er war müde, aber Müdigkeit war die Speise der Armen, und er kannte viele in Sowirog, die müder waren als er.
Fräulein Holstein klopfte leise an die Tür und brachte ihm einen Blumentopf. Rote Alpenveilchen, und sie standen leuchtend vor dem grauen Fenster. »Ich habe es gewußt, Herr Jons«, sagte sie, »aber was hilft es Ihnen alles, wenn die Mark weiter fällt?«
Sie werde einmal aufhören zu fallen, erwiderte Jons lächelnd, und der große Professor habe immer noch seinen glänzenden Wagen. Es müsse also doch gehen.
Sie schüttelte ablehnend den Kopf mit dem längst ergrauten Haar. »Werden Sie auch tausend Mark für eine Operation nehmen, Herr Jons?« fragte sie. »Oder hunderttausend oder eine Million?«
Wahrscheinlich werde er ein Pfund Butter nehmen und eine Rauchwurst, erwiderte er lächelnd, und es habe immer Zeiten gegeben, in denen das mehr gewesen sei als eine Million.
»Ja, Sie sind auch ein Mensch, Herr Jons«, sagte sie, »und kein Blutsauger!«
»Das würde nun den Professor kränken und den Schuster freuen«, meinte Jons.
Aber sie seufzte nur und wischte ein Staubkorn vom Tisch. »Es ist nun alles gleich«, sagte sie müde. »Republik oder Monarchie. Es wird immer mit den armen Leuten gekocht, nicht mit Holz oder Kohle. Auch die Kommunisten würden es nicht anders machen. Nur daß die Frauen dann jedem gehören würden.«
Jons lächelte wieder, weil er dachte, daß er keinen Kommunisten kenne, der sich an Fräulein Holstein vergreifen würde. Nicht einmal der alte Schuster würde das tun. »Lassen wir die anderen ihre Sorgen haben, Fräulein Holstein«, sagte er. »›Du aber gehe hin und verkünde das Reich Gottes!‹, sagte mein Vater.«
»Ich sagte ja, daß Sie ein Mensch sind, Herr Jons«, wiederholte sie, rückte den Blumentopf noch einmal zurecht und glitt dann wie ein Schatten aus dem Zimmer.
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