Jons aber blieb noch eine Weile sitzen, den Kopf an die schwarze Sofaecke gelegt, und dachte an das »Reich Gottes«. Die Streiks nahmen zu, die Umzüge, die Arbeitslosen, die Prügeleien, die Abzeichen auf den Rockumschlägen. Die Studenten hatten einen Fackelzug für einen General gemacht, an den Jons nicht mit besonderer Hochachtung dachte, und mit den brennenden Fackeln auf diejenigen eingeschlagen, die dem General alles andere bringen wollten, nur keinen Fackelzug. Auch Jons hatte mitgehen sollen, aber er hatte nicht gewollt. Er habe an drei Jahren Fackelzug genug, hatte er nur gesagt. Man hatte ihn böse angesehen und dann die Achseln gezuckt. Wo es um »Weltanschauungen« gehe, werde immer gern mit den Achseln gezuckt, hatte Jons gedacht.
Dieses wenigstens schien wahr und unantastbar zu sein, daß das Reich Gottes nicht von dieser Welt sei. Wieder blickte er über Jumbos Bücher hin und hörte die sanfte, spöttische, liebevolle Stimme. »Dreißig Morgen, Jons, hörst du? Dreißig Morgen!« Nein, er hatte noch nicht den Pachtvertrag, aber das Papier dazu hatte er vielleicht schon in den Händen. Und etwas mehr als das Papier. Sein Herz war noch nicht enttäuscht worden. Weder durch den Professor, dessen Vorlesung er verlassen hatte, noch durch die Witze, mit denen Studenten eine Sektion begleiteten, noch durch den großen Chirurgen, der von der Zukunft gesprochen hatte. Sie alle hatten ein Sprechzimmer vor sich und ein kleines oder großes Messingschild an der Tür. Und hinter sich hatten sie eine Schule oder eine Verbindung oder die kümmerliche Enge eines bürgerlichen Lebens. Urteile, Gesetze, Traditionen. Eben eine »Weltanschauung«.
Aber Jons hatte keine Weltanschauung außer dem Satz von den dreißig Morgen. Statt dieser Weltanschauung aber hatte er ein Dorf, das der Eulenwinkel hieß, und die Erinnerung an ein nächtliches Feuer, das auf einer Insel brannte. Er hatte des Vaters schwere Bibel mit den ungefügen Buchstaben und dahinter des Vaters Bild, wie er am Meiler stand oder zum letzten Male aus dem Dorfe ging. Er hatte die Mutter, die ihre Hand um die Fichtenstange gelegt hatte, und Maria und die beiden Kinder, und eines von ihnen hatte den Kopf an seine Schulter gelegt, um zu schlafen. Er hatte Herrn Stilling und den Herrn von Balk und die Frauen von Sowirog, die ihm zugewinkt hatten. »Geh mit Gott, Jons!« Und er hatte »einen weißen Stein und auf den Stein einen neuen Namen geschrieben«. Er war so reich, daß er keiner Fackelzüge und keiner Weltanschauung bedurfte.
Aber es war nicht zu übersehen, daß er hungerte und fror. Mit oder ohne Weltanschauung. Daß er seine Anzüge bis auf den Grund abgebürstet hatte und daß er, sobald ein Geldschein eintraf, zu dem kleinen Laden stürzen mußte, um Hanfsamen für den Buchfinken zu kaufen, ehe der Geldschein wieder nichts als ein Stück Papier war. Er war lange nicht zu Hause gewesen, und sie wußten dort wohl nicht recht, wie es in den Städten zuging. Nicht einmal Herr von Balk, der so viel wußte.
Aber es würde weitergehen wie »Hagel über dem Wald«, und er hatte nur zuzusehen, fertig zu werden. Nicht so fertig, wie die meisten anderen es meinten, mit einem Examen und etwas klinischer Praxis, sondern so, daß er mit einem ruhigen Herzen und einer ruhigen Hand nach Sowirog gehen könnte. Ein Mann ohne Zukunft, aber ein »Geburtshelfer«. Ein Mann ohne Angst, der nicht heimlich und atemlos in Büchern blättern mußte, um zu erkennen. Ein Mann, der im Gefühl hatte, wo der Tod sich einschlich, oder eine verschluckte Gräte so sicher herausnehmen konnte wie einen vereiterten Blinddarm. Der nicht fassungslos dastand, wenn Grünheids Stier jemand unter den Hörnern gehabt hatte oder eine schwere Kiefer auf den Rücken eines Waldarbeiters gestürzt war. Vieles geschah in einem kleinen Dorf, wo die Menschen der Natur unterworfen waren, ebensoviel wie in einer großen Stadt, und nur zu einem würden sie aufblicken, auf den sie gewartet hatten. Den sie »mit Gott« hatten gehen heißen und von dem sie mit einer unerschütterlichen Sicherheit glaubten, daß er auch mit Gott wiederkehren würde.
Und dann fielen ihm doch die Augen zu, und als Fräulein Holstein ihm das Mittagessen brachte, blieb sie regungslos in der Tür stehen und hielt den Atem an. Nun im Schlafe erst war das Gesicht von aller Spannung des Willens erlöst, und die schwere Erschöpfung aller Jahre war mit tiefen Zeichen in die jungen Züge eingegraben. Die Brust atmete ruhig, aber die Hände waren mit einer Gebärde tödlicher Ermattung auf dem schwarzen Leder ausgebreitet, und der Mund war der eines Kindes, das mit Tränen eingeschlafen war.
Fräulein Holsteins Hände zitterten so, daß das Glas mit Heidelbeersaft an den Tellerrand stieß. Jons erwachte sofort, aber es dauerte eine Weile, eh er sie erkannte. Dann versuchte er ein schuldbewußtes Lächeln, und wieder war ihr, als stehe er zum erstenmal auf der Schwelle, das Bauer mit dem Buchfinken in der Hand, ein Kind ohne Arg und Falsch, das aus den großen Wäldern aufgebrochen war.
»Herr Jons«, sagte sie leise, »ich habe die Furchen der Armen gesehen ...«
Er mußte erst eine Weile nachdenken, aber dann sprang er auf und legte den Arm um ihre zitternde Schulter. »›Es ist viel Speise in ihnen‹, steht dort geschrieben, Fräulein Holstein. Und es ist mir ein Trost, daß auch das Korn eine Weile schlafen muß, ehe es gemahlen wird.«
Er bekam seine Glückwünsche aus Sowirog und einen eingeschriebenen Brief von Gina, in dem eine Reihe von Dollarscheinen lagen. Er wendete sie langsam in seinen Händen, legte sie dann still beiseite und öffnete dann das Päckchen, das von seiner Mutter gekommen war. Es war mit Moos gefüllt, und er mußte es zuerst ans Gesicht heben, um den Duft einzuatmen. Dann tat er es vorsichtig zur Seite, und dann lag auf dem Grunde unter einem groben Briefblatt ein rötlich angestrichenes Kinderpferd, mit geschnitzten Beinen und zu großem Kopf. Schwanz und Mähne waren aus Pferdehaaren angeleimt. Ein Teil der Farbe war abgescheuert und abgeblättert, und darunter kam das helle, glänzende Lindenholz zum Vorschein. Das Ganze war nur so groß, daß es auf der Hand Platz hatte.
Lange blickte Jons auf dies ungeschickte Gebilde nieder. Er erinnerte sich des Geburtstages, an dem der Vater es ihm geschenkt hatte, und er sah die rauhe, schwärzliche Hand, die es ihm mit einer verlegenen Scheu auf die grobe Bettdecke geschoben hatte. »Ich habe es selbst gemacht, Jons«, hatte er gesagt. »Es ist nicht sehr schön, aber man kann es doch vielleicht erkennen.« Und dazu war dieses wunderbare, stille Lächeln um seine Lippen gewesen, das Lächeln, von dem Jons nun wußte, daß es das Lächeln eines Heiligen gewesen war. Damals hatte er es noch nicht gewußt, aber das Pferd hatte er herrlich gefunden, und jahrelang hatte er es zur Nacht auf das Laublager in der Meilerhütte genommen. Dann war es von anderen Dingen abgelöst worden und in Vergessenheit geraten.
Immer noch starrte er grübelnd auf dieses Zeichen versunkenen Lebens. Er sah die harten Hände der Mutter, wie sie das Moos aufhoben vom Meilergrund und es behutsam um das Spielzeug legten. Wie mochten ihre Augen darauf niedergeblickt, wie mochte ihr Herz dazu geschlagen haben? Er wußte es nicht, und wahrscheinlich würde er es niemals wissen.
Dann öffnete er das zusammengefaltete Blatt und sah die zitternden Buchstaben. Eine enge, hohe Schrift, aber jeder Zug in ihr hatte das Zeichen einer gramvollen Müdigkeit. Eine Schrift, die sich »zur Grube neigte«.
»Dieses hatte der Vater mit«, stand dort geschrieben, ohne Anrede, »als er in den Krieg ging. Sie haben es mir geschickt. Es lag im Tornister, zuunterst, und es war ein seidenes Tuch darum gewickelt.«
Nichts weiter. Kein Gruß, kein Glückwunsch, keine Unterschrift.
Aber auch ohne dies war es ein Testament. Das Testament eines Herzens, dem nur eine karge Sprache gegeben war.
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