Jons setzte das kleine Pferd auf den Tisch, neben die Dollarscheine, die in schönen Farben schimmerten, und blickte dann von einem zum andern. Es war ein Blut, aus dem sie kamen, und Blut war ein »geheimnisvoller Saft«.
Endlich stellte er das kleine Pferd auf das mittelste der Bücherbretter, über die vier Bände der »Reden Gotama Buddhas«, und dort stand es nun wie ein schüchternes magisches Symbol, der kleine Fetisch eines kleinen Dorfes und der Talisman eines großen Herzens.
Von Herrn von Balk war ein neues mattglänzendes Mikroskop gekommen. In seinen Sockel war das Vorwort zum »Nathan« eingegraben: »Introite, nam et heic Dii sunt.« Jons mußte lächeln, und er sah die ironischen Falten um Balks Augen, als er den Auftrag für die Schrift gegeben hatte. Für ihn waren in jeder Arbeit Götter, und deshalb gelang ihm jede. Für die meisten aber war nur Geld in der Arbeit, und deshalb mißlang sie ihnen.
Ja, nun mußte er weitergehen und einen neuen »Plan« aufstellen. Denn neben Semestern und Übungen mußte es Geld geben. Es ging nicht an, daß er von Gnade lebte oder von Freundschaft. Stillings Haar war weiß, und ein Teil davon fiel ihm zu, Jons allein.
Er wußte noch nicht, daß ihm um diese Stunde noch mehr davon zugefallen war. So viele an Jons' Schicksal teilnahmen, mit Erwartung, mit Sorge, mit Stolz, so war von allen doch der alte Lehrer derjenige, in dessen Lebensbahn die seine am tiefsten eingesenkt war, seit Jakob in der russischen Erde schlief. Es war nicht nur, weil er ein Menschenleben lang für ihn gespart und gedarbt hatte. Es war, weil Jons das Licht war, das über seinem Herzen und denen des Dorfes brannte. Das er angezündet hatte und um das er die Hände glaubte halten zu müssen, als es schon nicht mehr nötig war. Aller Irrtum des Lebens, alles Versäumte und nicht Gelungene war ausgelöscht, wenn dieses gelang: daß ein Kind des Dorfes sich aus der Dumpfheit und Fron erhob und aus einem Tagelöhner ein Segen würde. Es war nichts mit der Gerechtigkeit auf dem Acker und würde auf dieser Erde nie etwas sein. Es war auch nichts mit einem Statthalter Gottes, der durch die armen Dörfer fuhr und das Leid fortnahm, wie man Heu mit dem Rechen nimmt. Aber damit war es etwas, daß in einem dumpfen und beladenen Hause ein Fenster aufgestoßen wurde, und aus dem Fenster reichte eine Hand Brot an die Hungrigen, nachdem sie jahrhundertelang nur genommen hatte.
Und mit dieser Hand war ein ganzes Geschlecht geehrt, und mit dem Geschlecht das Dorf Sowirog, und mit ihm alle armen Dörfer dieser Erde. Ein altes Leben war nicht vertan, wenn dieses gelang. Fünfzig Jahre hatte es zwischen der Fibel und dem Buch der Bücher zugebracht, zwischen dem Geringsten und dem Höchsten. Es war nicht viel, daß die verarbeiteten Hände ihren Namen schreiben, und die ermüdeten Augen eine Bekanntmachung lesen, die gefurchten Stirnen ausrechnen konnten, was fünf Scheffel Hafer brachten, wenn der Scheffel drei Mark kostete. Es war nicht viel, weil ihre Urgroßväter keines davon gekonnt hatten und doch die geweihte Erde auf ihren Augenlidern trugen. Aber das war etwas, daß sie wußten, was recht und unrecht war, was Wesen und Unwesen, und daß sie wußten oder ahnten, daß die Bergpredigt auch unter dem verkrümmten Birnbaum auf dem sandigen Hügel über ihrem Dorfe gesprochen und verheißen worden war.
Und an allem diesem hatten Stillings Hände und sein weißes Haar ihren wohlgemessenen Anteil.
Er trug an Jons' erstem Examen schwerer als dieser. Er erinnerte sich der verwunderten oder hochmütigen Gesichter, die damals vor langen Jahren im Gymnasium auf seinen Hohenzollernmantel und auf des kleinen Jons eisenbeschlagene Schuhe geblickt hatten. Und die Professoren an der Universität würden nicht besser sein, sie würden wahrscheinlich gefährlicher sein. Könige der Wissenschaft, und Könige hatten selten Geduld. Köhler gab es nur noch in Märchen, und vor Köhlersöhnen würden sie keine besondere Hochachtung haben.
Aber selbst wenn dieses gelang, diese erste große Sprosse auf der Leiter der Zukunft, dann blieb immer noch dies, daß der Mann auf der Sparkasse bedauernd die Achseln gezuckt und gesagt hatte: »Es ist nichts mehr, Herr Stilling. Es tut mir leid, aber für den Rest können Sie noch sieben Brote kaufen. Genau sieben! Wenn Sie sie nämlich heute kaufen. Es trifft alle, und es tut mir wirklich leid.«
Stilling hatte die großen Scheine mit zitternden Händen genommen, den Rest seiner »Nobel-Stiftung«, und war langsam durch die Straßen der Kreisstadt gegangen, von Schaufenster zu Schaufenster. Die Steinplatten des Bürgersteiges lagen so fest wie immer unter seinen schweren Schuhen, aber er fühlte, daß sie schwankten. Wie bei einem Erdbeben, dachte er.
Schließlich blieb er vor dem kleinen Buchladen stehen und starrte auf die Auslagen. Das meiste waren große Titel mit grellen Farben auf schlechtem Papier, und sie sprachen von der Hölle der letzten Jahre oder dem Paradies der Zukunft. Stahlhelme oder Fackeln oder Schwerter, ganze und zerbrochene, blickten ihm als Symbole entgegen, und es war wie ein kümmerliches und lautes Menschengericht, mit Anklage und Verteidigung, wo Bruder gegen den Bruder stand.
Seine Augen gingen grübelnd die Reihen entlang, indessen seine noch immer zitternden Hände die großen Geldscheine umklammert hielten. Ein Buch sei mehr als sieben Brote, dachte er. Sieben Brote reichten für eine oder zwei Wochen, aber ein Buch könne für ein ganzes Leben reichen.
Und dann sah er ganz hinten, beschattet von allem Glanz und allerlei Prahlerei der leuchtenden Titel, ein kleines, altes Bändchen in einem schönen Einband aus vergangener sicherer Zeit, und es hieß »Der arme Mann im Toggenburg«, und er erinnerte sich, daß er einmal davon gehört oder gelesen hatte als von dem berühmten Bericht eines einfachen, redlichen Lebens.
Er ging hinein und bekam das Buch, und es war so, daß die Scheine gerade dafür reichten.
Während er den langen Weg nach dem Dorfe zurückging, zwei Meilen lang, unter einem windzerklüfteten Himmel, durch den die Kranichzüge sich nach Süden pflügten, blieb er oft und immer öfter stehen und las die tapferen, einfachen und tröstlichen Worte, Seite für Seite. Der Wind trieb die Pelerine und die Falten seines Hohenzollernmantels zur Seite, die welken Birkenblätter fielen auf sein weißes Haar und die Blätter des Buches, und wenn er auf einem der sandigen Hügel stehenblieb, eine einsame, dunkle Gestalt vor dem ungeheuren Himmelsraum, war er wie ein Magier anzusehen, der ausgegangen war, um den Sturm zu beschwören oder die Tränen dieser armen Erde, oder den Stein der Weisen unter den brausenden Wipfeln zu finden.
Und es war auch in Wirklichkeit so, daß er wenigstens seine eigenen Tränen beschwor. Denn der »arme Mann« legte seine kummervollen und gläubigen Hände auch über Herrn Stillings Leid, die schwankende Erde wurde wieder fest, das Bleibende hob sich wieder aus den Trümmern heraus, und als er in der tiefen Dämmerung wieder am Dorfrande stand und den Balken des Ziehbrunnens und den »toten Pfarrer« vor dem glühenden Abendrot erblickte, und hier und da ein mattes Licht hinter erblindeten Fensterscheiben, faltete er seine Hände um das kleine Buch und meinte, daß er nun wohl wie Noah auf dem Berge Ararat sei und daß keine Sintflut ein gläubiges Herz erreichen könne, wenn aus einem dieser Herzen einmal ein solches Buch aufgestiegen sei.
So bekam Jons Ehrenreich zu dem kleinen Kinderpferd und den bunten Dollarscheinen, zu dem glänzenden Mikroskop und den roten Alpenveilchen nun auch dieses kleine Buch vom »armen Mann«, und es war ihm, als sei er damit über alle Gebühr an Ehren reich.
Aber für Herrn Stilling war es damit nicht abgetan. Er hatte ein Geschenk erworben für den großen Examenstag und für lange Zeit darüber hinaus, aber er hatte nichts für des Leibes Notdurft erworben, das er Jons hätte schicken können, und dies hatte er versprochen, als er ihn zum ersten Male an der Hand in die große Stadt geführt hatte. Viele Tage stand er grübelnd vor seinen Büchern und den Schränken des Zwergenhauses, nahm etwas in die Hand und legte es wieder fort, so lange, bis Elisa ihn mit scharfer Stimme fragte, ob er etwas verloren habe oder eine Auktion veranstalten wolle.
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