1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Aber Jons ging doch schnell über das Feld. »Soll ich hinauf aufs Fuder, Kiewitt?« fragte er. »Ich will schon ordentlich laden.«
Kiewitt zuckte einmal mit der Schulter, denn er hatte ihn nicht kommen hören, aber dann schüttelte er den Kopf und lehnte sich an die lange Gabel. »Der Herr Student«, sagte er und sah ihn nachdenklich an. »Hat Gott sie eingerenkt, Jons?«
»Ich denke, ja«, erwiderte Jons, »und er hat wohl auch mehr zu tun, als sich um meine Hüfte zu kümmern.«
Kiewitt ließ die hellen Augen einmal über seinen Acker und dann in der Richtung des Meilers gehen. »Viel hat er zu tun«, sagte er. »Siehe, er kommt mit den Wolken, und es werden ihn sehen alle Augen, und die ihn gestochen haben; und werden heulen alle Geschlechter der Erde. Ja, Amen.«
Jons wußte nicht recht, was er erwidern sollte. Die Sonne schien über das warme Feld, und vom See hörte man den Schrei des Adlers. Es kam etwas unerwartet über ihn, dieses »Donnerwort« aus Kiewitts Munde.
»Das ist aus der Offenbarung?« fragte er zaghaft.
Kiewitt nickte. »Nein«, sagte er dann. »Laß es nur sein, Jons. Ich werde auch so fertig. Sie warten auf dich ... kannst du es nun schon, helfen und heilen?«
»Ich fange an, Kiewitt, ganz von vorne. Es dauert lange Zeit, viele Jahre.«
Kiewitt nickte noch einmal und stach dann langsam die Gabel in die nächste Garbe. Die Sonne neigte sich schon. Aber bevor Jons ging, rief er ihn noch einmal an und deutete auf den Meiler. »Es steht kein Rauch mehr über dem Wald«, sagte er, »aber vergiß es doch nicht, Jons ... auch dies steht geschrieben: ›Wer überwindet, dem will ich zu essen geben von dem verborgenen Manna, und will ihm geben einen weißen Stein und auf dem Stein einen neuen Namen geschrieben, welchen niemand kennt, denn der ihn empfahet.‹«
Und dann legte er die nächste Garbe auf den Wagen.
Nein, Jons vergaß es nicht. Nicht den Meiler und nicht Herrn Stilling, nicht Korsanke und den alten Piontek, die Lebenden nicht und die Toten nicht. Es war ihm, als sei er länger fortgewesen als während des Krieges, aber als sei es nun eine bessere Heimkehr.
»Jeromin ... Jeromin, hilf mir, meine Zunge ist jrien ...«, sangen die Kinder auf der Dorfstraße. Sie hatten Hasenklee gekaut und zeigten ihren grünen Mund. Dann lächelte Jons wie in Kinderzeiten, zupfte sie an den weißblonden Haaren und dachte, das seien nun die ersten Patienten, die nach ihm verlangten. Aber sie wollten nicht sagen, von wem die ungeschickten Verse stammten, und Jons war auch ohnedies sicher, daß die fröhliche Barbara die Urheberin war.
Die ersten Tage, bevor er wieder zu arbeiten begann, war er wie in einem Zauber. Von der frühen Morgenstunde an, wenn das Rindenhorn des alten Piontek ihn weckte, bis zur Nacht, wenn der rote Mond über den Giebeln stand und die Fledermäuse lautlos um den Ahorn glitten. Es war nicht nur dies, daß er wieder zu Hause war; daß die Kammer, in der er schlief und lebte, ebenso gebaut war wie die, in der sie als Kinder gelebt hatten; daß Steine und Straßen versunken waren. Es war dies, daß er nicht mehr allein war. Daß er wieder hineingeflochten war in das Schicksal des Dorfes, ein kleines Schicksal, aber es ging ihn an. Die Kuh bei Gina Bojar, die an Blutnetzen erkrankte, ging ihn an. Die Eiterung an Pionteks Hand, die er mit einem Messerschnitt öffnete, ging ihn an. Stillings Zahlentabellen und Korsankes leiser Schmerz. Das Gewitter, das über der Haferernte heraufzog, und das Feuer am Moorrand, das sie mit Spaten und Löscheimern bis in die Nacht bekämpften. Es war nicht zu glauben, wieviel in einem so kleinen Dorfe geschah. Und alles geschah auch ihm, und viele glaubten, daß nur er allein helfen könnte. Die Hochachtung vor aller Wissenschaft war tief in ihre gläubigen Herzen gesenkt.
Er war zur Meilerhütte gegangen, noch bevor er das Dorf betreten hatte, und die Mutter hatte auf der Schwelle gestanden und ihm entgegengesehen. Wieder war der Zug einer leisen Angst in ihrem Gesicht gewesen, der ihn beim Abschied so ergriffen hatte. Sie hatte nicht viel gesprochen, und ihre Stimme war ganz leise geworden, wie die eines Menschen, der von Geistern umgeben ist. »Bist du gesund, Jons?« hatte sie gefragt. Und: »Bleibst du lange, Jons?« Das war alles gewesen. Aber zum Abschied war ihre harte, kalte Hand einmal über seine Wange geglitten, wo sie ihn damals geschlagen hatte, scheu und wie aus Versehen, und sie hatte sie gleich wieder zurückgezogen. »Gehe nun zu den Deinigen, Jons«, hatte sie gesagt. »Sie warten auf dich.« Und ehe er etwas hatte sagen können, war sie zurückgetreten und hatte leise die Tür hinter sich geschlossen.
Und er hatte eine lange Weile am Waldrand stehen müssen, ehe er imstande gewesen war, zu den »Seinigen« zu gehen. Und auf dem Stein einen neuen Namen geschrieben ..., dachte er. Ja, sie wußten wohl alle nicht, daß Kiewitt der Klügste von ihnen war. Und nicht nur, weil er noch einmal getauft worden war.
Er hatte auch bei Stilling gesessen, und hier hatte er am tiefsten das Bewußtsein der Zeit verloren. Er rührte mit der Hand leise die Weltkugel an, bis die Festländer und Meere sich lautlos zu drehen begannen. »War das nicht gestern, Herr Stilling«, fragte er leise, »als ich noch hier saß und die schönen amerikanischen Namen lernte? Minnesota und Minnehaha?« Und der alte Lehrer blickte mit ihm auf die langsam kreisende Erde, an deren einem nie zu wissenden Punkt der verlorene Sohn nun wandern oder schlafen mochte, und nickte seinem Schüler zu. »Alles war gestern, Jons Ehrenreich«, sagte er, »und auch morgen wird schon alles ›gestern‹ sein. Aber du hast für das ›Morgen‹ zu leben, Jons Ehrenreich, du ganz besonders, und das sollst du nie vergessen.«
Und dann fragte er nach der Mark, und Jons beruhigte ihn. »Daß die Ärzte sich um die Mark kümmern, glaube ich schon«, sagte er, »aber die Medizin kümmert sich nicht um sie. Auch für sie wird das einmal ›gestern‹ sein.«
Aber Stilling schüttelte weiter den Kopf und blickte auf die kreisende Erde, als ziehe sie alles Ersparte der Welt mit sich und lasse es hinter der Krümmung der Kugel ins Bodenlose stürzen.
Dann kam Elisa herein und betrachtete ihn mit der milden Nachsicht, die sie für »geistige Arbeiter« übrig hatte. »Ist es wahr«, fragte sie, »daß ihr dort einen Polizeipräsidenten habt, der ein Roter ist und früher ein Maurergeselle war?«
Ja, das sei wahr, erwiderte Jons lächelnd, und er sei nicht schlechter als die Herren von und zu, die sie früher gehabt hätten.
»Aber ein Auge soll er nur haben«, sagte Elisa mit nüchterner Kälte. »Das andere hat Gott ihm genommen für seinen Unglauben.« Und sie sah ihn prüfend an, ob er selbst noch beide Augen habe, oder ob eines schon im Begriff sei, zu erblinden.
»Du bist eine Närrin, Elisa«, sagte Stilling milde.
Aber sie hob drohend die Hand mit der Stricknadel und deutete mit der grauen Spitze auf sie beide. »Wer aber zu seinem Bruder sagt: ›Du Narr!‹ der ist des höllischen Feuers schuldig«, sagte sie, und es war, als verurteile sie beide zum Tode.
Stilling lächelte nur, aber Jons hielt die Stricknadel scherzend fest und meinte: »Sie kennen die Bibel so gut wie mein Vater, Tante Elisa. Nur daß er die anderen Worte sagte, die guten und die tröstenden.«
»Er war ein Jeromin«, erwiderte sie ungerührt, »und auch du wirst nicht anders werden. Auch wenn du Ehrenreich heißt.«
Er hatte auch beim Herrn von Balk gesessen, vor dem Kamin, und auch hier hatte er gemeint, daß es keine Zeit gebe. Zeit gab es wohl nur in den Städten, wo die Erde nicht mehr war. Die langen Bücherreihen schimmerten im Schein des Feuers, und der Papagei rührte sich leise in seinem vergoldeten Käfig. »Allons, enfants ...« sagte er mit seiner heiseren, verschlafenen Stimme.
»Ist das neu?« fragte Jons lächelnd.
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