So ernst Gisbert auch immer seine Vaterpflicht nehmen mochte, so machte doch die gemisshandelte Natur, nachdem sie sich vier Nächte hinter einander um den Schlaf hatte betrügen lassen, endlich ihre Rechte unwiderstehlich geltend. Als der kleine Walther für einen Moment die Augen schloss und das dunkle Lockenköpfchen wie zum Schlummer auf die Seite neigte, glaubte Gisbert sich gleichfalls auf ein paar Minuten ausruhen zu dürfen. Er warf sich auf den alten Schlafdiwan, reckte und dehnte die vor Ermüdung schmerzenden Glieder und schloss die Augen. Doch trotz seines festen Vorsatzes, wach zu bleiben, war er nach wenigen tiefen Atemzügen schon in schweren Schlaf versunken. Er hörte nicht das angstvolle Röcheln aus der zugeschnürten Kehle — er hörte nicht den letzten Seufzer seines Kindes! — —
Lenzgoldig leuchtend stieg an diesem Morgen die Sonne über den knospenden Wipfeln des Tiergartens empor, und als sie endlich auch über die Dächer in die Höfe der Flemmingstrasse hineinzuschauen vermochte, da stahl sich durch den schmalen Spalt der Vorhänge auch ein Strahl in das dumpfe karbolduftende Krankenzimmer und huschte über das bleiche Antlitz des schlafenden Vaters. Der blinzelte erst unbehaglich dem störenden Lichte entgegen, und dann, plötzlich zum Bewusstsein kommend, sprang er auf die Füsse und trat an das Bettchen. Die vor wenigen Stunden noch flammend roten Wangen waren bleich, das glühende Körperchen kühl und die glänzenden braunen Augen starrten verglast nach der Zimmerdecke hinauf. Ein Frostschauer rieselte Gisbert eiskalt über den Rücken. Sein Kind war tot — und er hatte vielleicht gerade in der entscheidenden Stunde seine heilige Pflicht versäumt! Ein plötzlicher Schwindel erfasste ihn. Er taumelte nach dem Fenster, riss die Vorhänge beiseite und die Fensterflügel weit auf. Das helle, lebenspendende Licht floss in breitem Strome in das Totenzimmer herein; die kühle feuchte Morgenluft strich durch Gisberts wirres Haar und hauchte ihre erfrischenden Küsse auf seine brennenden Augenlider. Und als der Schwindel von ihm gewichen war, da bemerkte er, wie das Dienstmädchen von gegenüber, den Besen geschultert, ein rotwollenes Tuch um den Kopf geschlungen, mit dummer Neugier zu ihm herüberglotzte. Ueber den asphaltierten Hof schlurrten die Pantoffel des Bäckerjungen, und er pfiff die schöne Melodie vor sich hin: „Mutter, der Mann mit dem Coaks ist da!“ Zu der Spatzenfamilie, die piepsend auf der Dachrinne hockte, kam ein früher Morgenbesuch geflogen und brachte Neuigkeiten mit, über welche die ganze Gesellschaft in grosse Aufregung geriet. Aus dem offenen Küchenfenster des untersten Stockwerks tönte in schrillem Diskant das Schelten einer übereifrigen Hausfrau. Von der nahen Stadtbahn her hörte er deutlich das Puffen der Lokomotiven und ein scharfes Klingeln kündigte die Nähe des Bolleschen Milchwagens an.
Tief aufseufzend strich Gisbert das Haar von der hohen Stirn zurück und eilte dann mit leisen Schritten, abgewandten Blickes, an dem Totenbettchen vorüber nach der Thür des ehelichen Schlafgemaches. Geräuschlos trat er ein und schlich sich an Loris Bett. Sie schlief noch, leise vor sich hinpustend. Die schwache Dämmerung, die in dem Zimmer herrschte, liess ihn nur eben die weichen Formen ihres Antlitzes erkennen, die sich von dem weissen Linnen des Kopfkissens und der getollten Stickerei um den Hals rosig abhoben. Das üppige Blondhaar fiel lose in leicht gewellten Strähnen bis auf den friedvoll sich hebenden und senkenden Busen herab. An ihrem linken Arm hatte sich der Aermel weit hinaufgeschoben, die schmale Hand hing lässig über den Bettrand hinab.
Gisbert setzte sich seitwärts auf das Bett, hob diese Hand leise auf und beugte sich zu einem langen Kusse darüber. Und dann begann er, den wunderschönen blossen Arm kosend zu streicheln. Er fühlte die Pulse in dem blauen Geäder klopfen — und da musste er plötzlich daran denken, wie sein Auge sich an dem rosigen, warmduftenden Körperchen seines toten Lieblings so oft heimlich geweidet hatte, wenn er noch spät in der Nacht an das Bettchen des Schlummerden getreten war. Er fühlte sich im Innersten erbeben, der starre Schmerz löste sich in heisse Thränen auf — er umklammerte mit beiden Händen den Arm seines Weibes und drückte ihn, sich neben sie auf das Lager streckend, aufschluchzend an seine Brust.
Mit einem erschrockenen Aufschrei erwachte Lori und suchte ihn mit der freien Hand von sich zu drängen. Dann aber, ihn erkennend, rief sie innig besorgt: „Was ist? Was hast du, Gisbert? Du hast mich so erschreckt! Ist etwas mit dem Kinde ...?“
„Es ist tot!“ schluchzte er auf, indem er sein verstörtes Antlitz auf einen Augenblick zu ihr erhob. „Ach, Lori, mein süsses Weib, lass mich hier liegen und mich ausweinen! Drücke mich an deine Brust — ich kann es nicht allein tragen!“
Und sie liess ihn, wie ein müdes Kind, sein Haupt an ihrem Busen betten uud weinte mit ihm. —
Am andern Tage schon trugen sie die kleine Leiche hinaus — und dann blieben Gisbert und Lori ganz allein in der verwaisten Wohnung zurück; denn auch Eva sollte erst nach vierzehn Tagen heimkehren, nachdem durch gründliche Reinigung und Lüftung aller Räume die Gefahr der Ansteckung möglichst beseitigt war. Wie wohl that ihm nun das warme Mitgefühl seines Weibes, ihr herzlicher Zuspruch, die sanfte Betäubung, die wie ein warmer Regenschauer sein Denken überrieselte, wenn sie mit ihren schlanken Fingern durch seine Locken strich!
Doch ach! Selbst dies trübselige Glück der versüssten Trauer hatte kaum eine Woche Bestand! Sein stets arbeitender lebhafter Geist hielt die vollkommene Ruhe nicht länger aus. Er bedurfte der Zerstreuung, der belebenden Gemütsbewegung — und die vermochte ihm Lori nicht zu bieten. Schon wieder offenbarten sich die schroffen Gegensätze ihrer Naturen und führten zu gegenseitigen Missverständnissen, welche den kurzen Frieden ihrer Ehe wieder grausam zerstörten. Sie begriff seine wechselnden Stimmungen nicht und reizte ihn oft, trotz ihres besten Willens, durch ihren Zuspruch erst recht zu heftigen Ausbrüchen des Missmuts.
Renard hatte den Tod seines Knaben dem Bekanntenkreise durch gedruckte Anzeigen bekannt gemacht. Es waren darauf die üblichen Beileidsbezeigungen in den mehr oder minder kühlen Wendungen eingelaufen. Er fragte solchen herkömmlichen Höflichkeitsbezeigungen herzlich wenig nach, aber dennoch fiel es ihm auf, dass von dem alten Döhmke kein Zeichen des Beileids einlief. Sollte der alte Sonderling Verdacht geschöpft haben? Gisbert meinte doch bei der letzten Verhandlung mit ihm und Herrn Zwillich sein Spiel so gut gespielt zu haben! Sie waren ja auch in aller Freundschaft auseinander gegangen. Der Alte hatte sein bares Geld richtig in der Tasche. Dass Vater Döhmke inzwischen von seinem andern, viel ärgeren Vertrauensbruch Wind bekommen hatte, davon liess sich Gisbert nichts träumen. — — —
Etwa vierzehn Tage nach dem Begräbnis — die kleine Eva war inzwischen nach Hause zurückgekehrt — hatten Renards den in letzter Zeit verhältnismässig selteneren Besuch des Freiherrn von Drenk erhalten. Es hatte an dem Tage bereits eine ziemlich heftige Scene zwischen den Eheleuten gegeben, verursacht durch eine Meinungsverschiedenheit über die Erziehung der kleinen Eva, bei welcher die von der Mutter ererbte Anlage zur Gefallsucht, und was schlimmer war, zur Lüge Lori immer bedenklicher hervorzutreten schien. Dass Gisbert gerade jetzt dem Kinde seine ganze Zärtlichkeit zuwandte, war ja am Ende nur natürlich und von Lori war es unklug, gerade jetzt vor dem Verziehen zu warnen. Da fielen denn von seiner Seite wieder einmal harte Worte: ob es ihm denn nicht mehr erlaubt sein solle, um die Liebe seines Kindes zu werben? ob denn das arme Geschöpfchen doppelt verwaisen solle, nur darum, weil seine Stiefmutter sich dadurch gekränkt fühlte, dass das Mädchen schon jetzt die Anmut, die leichtherzige Liebenswürdigkeit des Wesens zu zeigen beginne, welche ihr Vater an den Frauen so liebte und die sie eben gar nicht besass! Zum Schlusse wurde er gar pathetisch und rief aus: nur der Tod werde ihn von seinem Kinde trennen, dem einzigen Wesen, bei welchem er immer auf liebevolles Verständnis für seine Natur rechnen dürfte.
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