Kaum eine halbe Stunde früher hatte auch Lori mit ihren beiden Stiefkindern dieselbe Linie benutzt. Sie war mit ihnen im Tiergarten spazieren gegangen; der kleine Walther, der ein wenig kränkelte, sollte sich in der frischen Luft des ersten sonnenhellen Apriltages wieder rote Backen holen. Aber das Kind war verdrossen und unlustig zum Spielen. Der kleine Wildfang, der sonst so unermüdlich seinen Reifen schlug oder sich mit Schwester Evchen jagte, hängte sich heute schwer an das Kleid seiner Stiefmama; er klagte über Schmerzen im Halse, über Schwäche in allen Gliedern und erklärte bald, dass er nicht mehr laufen möge.
Als Lori den Pferdebahnwagen am Brandenburger Thor bestieg, wurde sie von zwei auf der hinteren Plattform stehenden jungen Männern sehr höflich begrüsst. Sie dankte, wie das ihre Art war, mit kaum merklichem Kopfnicken. Das Gesicht des einen kam ihr bekannt vor, doch wusste sie nicht, wo sie es gesehen habe. Sobald Plätze im Wagen frei wurden, setzten sich die jungen Leute hinein und Lori bemerkte, dass sie von ihnen aufmerksam betrachtet, ja augenscheinlich bewundert wurde. Doch der Zustand des kleinen Walther begann sie derart zu ängstigen, dass sie darauf nicht mehr sonderlich acht gab. Stirn und Wangen des Kleinen glühten bereits im Fieber — sie konnte es durch den Handschuh hindurch fühlen; er atmete rasch und schmiegte sich eng an ihre Seite.
Als sie an der Werftstrasse mit den Kindern aussteigen wollte, taumelte Walther so sehr, dass sie ihn auf den Arm zu nehmen im Begriff war; da sprang der eine der jungen Leute rasch zu und kam ihr zuvor.
„Sie gestatten, dass ich Ihnen behilflich bin, gnädige Frau,“ sagte er, indem er, den Knaben auf dem Arm, abstieg und dann ihr selbst seine freie Hand stützend darreichte. „Das arme Bürschchen ist wohl plötzlich krank geworden? Ich will ihn Ihnen gern nach Hause tragen.“
„Ich weiss nicht, ob ich Ihre grosse Liebenswürdigkeit annehmen darf,“ versetzte Lori errötend. „Wir wohnen allerdings ganz nahe; aber wir können ja auch eine Droschke nehmen. Das Kind ist schwer.“
„Aber nein, bitte! Ich mache mir ein Vergnügen daraus,“ beharrte jener; „ich hatte ja schon einmal das Glück, Ihnen einen kleinen Dienst erweisen zu können ... Sie entsinnen sich wohl nicht mehr, gnädige Frau? Im Geschäft von Lüders, als ich Ihnen das helle Spitzenkleid auswählen half. Mein Name ist Vollborth, Maler. Gestatten Sie vielleicht, dass ich Ihnen auch meinen Freund vorstelle: Herr Reinecke, Komponist.“
Tief errötend zog Henri, der mit der kleinen Eva den andern folgte, den Hut vor seiner schönen Schwägerin und empfing ihren kühlen, ein wenig verwirrten Gegengruss. Dann trat er wieder bescheiden zurück und liess Vollborth mit Lori vorangehen. Er fühlte sich eigentümlich bewegt durch diese Laune des Zufalls, die ihn so unvermutet und unerkannt dem kleinen Neffen, den er heute zum erstenmal sah, dem Nichtchen, das er als Wickelkind verlassen hatte, wieder nahe brachte. Walther hatte sein heisses Gesichtchen matt an Vollborths Schulter verborgen. Er konnte nur Evchen, die mit einer wohl schon koketten Grazie neben ihm einhertrippelte, beobachten. Das Kind war eine pikante kleine Schönheit geworden, eine Schönheit, wie sie in diesem Alter in Bezug auf die fast reif zu nennende Formenfülle und die bereits charakteristischen Züge des Gesichtes fast nur Judenkindern eigen ist.
„Nun, Kleine,“ entschloss sich Henri endlich, ein Gespräch zu eröffnen, „du bist doch nicht krank? Oder soll ich dich vielleicht auch auf den Arm nehmen?“
„Nein, danke,“ erwiderte das Kind mit einem drolligen Knicks, „aber Sie können mir die Hand geben.“
Henri hielt das Pätschchen fest und drückte es unbewusst von Zeit zu Zeit, so dass Evchen mit ihren grossen dunklen Mandelaugen immer wieder fragend zu ihm aufsah. Und als sie nach wenigen Minuten vor der Thür des Hauses angelangt waren, in dem Renards wohnten, da vergass er sich gar so weit, „Adieu, liebes Evchen!“ zu sagen. Er wartete unten auf der Strasse, während Vollborth den kranken Knaben auch noch die Treppe hinauftrug.
Auf dem ersten Treppenabsatz zupfte Eva die Stiefmama am Kleide, bedeutete ihr, dass sie ihr Ohr herabneigen möge, und flüsterte ihr zu: „Ach, Mama, das war ein hübscher Mann, mit dem ich ging, den mag ich leiden! Denk’ nur, er hat mich Evchen genannt! Woher weiss er denn, wie ich heisse?“
In ihrer grossen Sorge hatte Lori jetzt keinen Sinn für die schlaue Entdeckung der kleinen Kokette. Sie zuckte nur die Achseln und schritt eilig dem Maler nach.
„Ich weiss wirklich nicht, wie ich Ihnen danken soll, Herr Vollborth,“ sagte sie herzlich, als sie oben im zweiten Stock angelangt waren und das Dienstmädchen den Knaben hineingetragen hatte. „Mein Mann ist leider noch nicht zu Hause, sonst würde ich Sie bitten ...“ Sie wusste eigentlich nicht, worum sie ihn bitten würde, und brach verlegen ab.
Da kam Vollborth ein kühner Gedanke. Ihre dargereichte Hand warm drückend, stiess er hastig hervor: „Sie könnten mir allerdings danken, gnädige Frau, und mich sehr glücklich machen, wenn Sie mir erlauben wollten — Ihr Porträt zu malen.“
„Ich werde mit meinem Mann sprechen,“ versetzte Lori, flüchtig errötend. „Wenn er es erlaubt ...“
Noch einmal reichte sie ihm die Hand — dann schloss sich die Flurthür, und Manuel Vollborth stürmte glückstrunken die Treppe hinunter. — —
Als Gisbert Renard etwa eine Stunde später nach Hause kam, empfing ihn Lori mit der Schreckenskunde, dass sein Walther von der tückischen Diphtheritis befallen worden sei. Sanitätsrat Magnus hatte sie soeben verlassen und die kleine Eva mit sich genommen. Aus freien Stücken hatte er sich erboten, das Kind bei sich zu behalten, bis die Ansteckungsgefahr vorüber sei.
Nun kamen trübe Tage, in denen, bleiern wie der graue Regenhimmel über der Riesenstadt, die Sorge auf dem Gemüte des Vaters und der Stiefmutter lastete. Und wieder einmal führte das gemeinsame Leid die getrennten Herzen zusammen. Lori wollte ihm zeigen, dass sie für sein Kind der Aufopferung einer leiblichen Mutter fähig sei, und er bewies ihr durch die zärtlichste Sorgfalt, mit der er sie davor zu behüten suchte, sich der Ansteckungsgefahr allzusehr auszusetzen, dass ihm ihr Leben noch teurer sei, als das seines eigenen Fleisches und Blutes. Er liess es sich nicht nehmen, die schwersten Pflichten der Krankenpflege selbst zu leisten. Er gab es durchaus nicht zu, dass sie ihre Nachtruhe opferte, sondern sass selber Nacht für Nacht an dem Bettchen des kleinen Dulders. Es war eine schwere Aufgabe, die Vorschriften des Arztes genau zu erfüllen, da das Kind in seiner matten Gleichgültigkeit geradezu störrisch alle Linderungsmittel, die man ihm eingeben mochte, zurückwies. So war es z. B. unmöglich, das Kind zum Gurgeln zu bringen, und es musste statt dessen das Einblasen pulverförmiger Heilmittel in den Rachen versucht werden. Aber auch das liess sich oft nur durch Anwendung von Gewalt bewerkstelligen, wenn der Kleine durch kein Zureden dazu zu bewegen war, seinen Mund aufzusperren. Den grossen vorwurfsvollen Blick, den die fieberweiten Kinderaugen auf den Peiniger richteten, vermochte Lori nicht zu ertragen, und es blieb daher Gisbert diese grausame Pflicht ganz allein überlassen. Selbst am Tage musste er zur Erfüllung derselben von seinem wohlverdienten Schlummer aufgerüttelt werden.
Schon am vierten Tage nahm die Krankheit einen sehr drohenden Charakter an. In der Nacht stellte Gisbert eine Temperatur von nahezu zweiundvierzig Grad fest. Oefter denn bisher noch erneuerte er die Eisumschläge, zwang er das Kind, das die glänzenden Augen unverwandt auf ihn gerichtet hielt, Eisstücke zu schlucken. Er wusste nicht, dass seit dem letzten Besuche des Arztes eine gefährliche Wendung zum Schlimmeren eingetreten war, nach welcher das Eis keine Wirkung mehr üben konnte. Es war bereits eine Blutvergiftung erfolgt, gegen die nichts mehr auszurichten war.
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