„Ehrlos! Ehrlos! mein Mann!“ stöhnte Lori verzweiflungsvoll auf, und das blonde Haupt senkte sich, als beuge ihr Schmerz und Scham den Nacken gewaltsam zur Erde nieder.
Eine beängstigende Stille trat ein. Der alte Döhmke langte schweigend nach seinem Hute, grüsste stumm und schritt der Thür zu. Dort besann er sich einen Augenblick, wandte sich wieder in das Zimmer zurück und sagte zögernd, zu Lori gewendet: „Wenn Sie vielleicht jetzt den Wunsch haben sollten, zu Ihrem Vater zurückzujehen ... ich will jerne so lange warten und Sie dann hinbegleiten — damit er doch jleich weiss, woran er ist.“
Da fuhr Gisbert, noch ehe Lori antworten konnte, aus seinem Stuhl empor, auf dem er bis dahin fast regungslos gesessen hatte, und rief mit halb erstickter Stimme: „Ha! Hast du diese ganze Geschichte nur in Scene gesetzt, um uns beide auseinander zu bringen? Ich weiss schon, wer mir das eingebrockt hat! Diese habgierige Bestie, dieser schmierige Judenbengel, dieser Feilchenfeld. Also solcher Giftzunge glaubst du blindlings jede Verleumdung, und mich fragst du gar nicht einmal, ob ich etwas zu meiner Verteidigung vorzubringen habe?“
„Ich habe dir ja schon jesagt,“ entgegnete Döhmke ruhig, „wir hätten die Sache ein andermal und unter vier Augen miteinander abmachen können, wenn de dich nich ebend selbst als en so jemeiner Heuchler entlarvt hätt’st. Das einzige, was dich in meiner Achtung hätte wieder herstellen können, das wäre jewesen, wenn de dich wenigstens deiner Frau jejenüber reumütig zu deinem ... na, ich will ’mal sagen: Leichtsinn, bekannt hätt’st. So aber — nee, so hab’ ich kein Mitleid mit dir. Und Ihnen, Frauchen, kann ich nur raten, lassen Sie sich von mir zu Ihrem Herrn Vater bringen. Machen Sie ein Ende, je eher je besser! Sie und dieser Mensch passen ja zusammen wie ... wie ...“
„Wie Wasser und Feuer!“ ergänzte Renard ingrimmig. „Ja, da hast du ein wahres Wort gesprochen, Onkelchen! Das habe ich schon acht Tage nach unsrer Hochzeit gemerkt, dass wir nicht zu einander passen! Geh nur, geh, Lori — jage mir deine adlige Sippschaft mit ihrem Feldgeschrei von Ehre auf den Hals; hänge mir einen Scheidungsprozess an, der mich gesellschaftlich totschlägt — räche deine kalte Tugend an mir! Du hast recht, ich bin ja an allem schuld. Ich bin zwanzig Jahr älter als du — ich konnte wissen, was ich that, als ich dich heiratete.“
Er sprang auf, trat ans Fenster und drückte seine bleiche Stirn an die Scheiben.
Mit langsamen Schritten folgte ihm Lori nach. Zögernd legte sie eine Hand auf seine Schulter und sagte leise, wie bittend: „Willst du es nicht wenigstens zurücknehmen, was du mir als Stiefmutter vorgeworfen hast? Bin ich wirklich in deinen Augen die Mörderin deines Kindes?“
Langsam wandte er den Kopf nach ihr um und sagte: „Das ... das war unrecht! Verzeih’ mir das, wenn du kannst.“
Ein tiefer Seufzer hob Loris Busen und ein Schimmer von Hoffnung verklärte ihre schmerzerfüllten Züge. „O nicht wahr, Gisbert, du kannst noch bereuen? Und auch das andere ... nicht wahr, du bist nicht so schuldig, als dass die Liebe dir nicht vergeben könnte? — Wenn ich nun bei dir bliebe, wenn ich dir helfen wollte — wäre es da nicht wieder gut zu machen?“
Gisbert vermochte nicht zu antworten. Wie gebrochen sank er auf den nächsten Stuhl am Fenster zusammen und liess wie betäubt den Kopf auf die Brust herabfallen.
Lori winkte Vater Döhmke mit einem bedeutungsvollen Blick zu gehen.
„Sie sind ein Engel!“ flüsterte der leise vom anderen Ende des Zimmers herüber. „Ihnen zuliebe will ich schweigen. — Aber wenn Se ’mal en Freund nötig haben, denn denken Se an den ollen Döhmke — nich wahr, mein liebes Kind?“
Sie nickte ihm trübe lächelnd zu — und dann verliess der alte Herr eilig das Zimmer.
Elftes Kapitel.
Im Reichstag.
Der 28. April sollte für den Abgeordneten Freiherrn von Drenk ein bedeutungsvoller Tag werden. Er gedachte an diesem Tage seine Jungfernrede vom Stapel zu lassen. Immer noch hatte die Gelegenheit sich nicht zeigen wollen; nun aber galt es, nicht mehr zu zaudern. Die Sitzungsperiode näherte sich stark ihrem Ende. Am 28. April kam eine Novelle zum Vereinsgesetz zur Beratung; das musste ihm den willkommenen Vorwand für seine Anklage wider die Freimaurerei abgeben. Am Abend vorher hatte er an seinen Schwiegersohn, sowie an seinen Neffen, Günther von Schlichting, Tribünenkarten mit höflicher Einladung gelangen lassen.
Günther machte sich beizeiten auf, um seine schöne Base abzuholen. Lori bedauerte sehr, dass ihr Gatte nicht mitkommen könne: er befinde sich seit einigen Tagen gar nicht wohl, leide an Kopfschmerzen und an einer nervösen Unruhe, die ihn besonders beängstigend in zahlreicher Gesellschaft überfalle. Der Arzt habe ihm dringend eine Erholungsreise empfohlen. Sie würden nach dem Süden aufbrechen, sobald erst gewisse Geldangelegenheiten geordnet wären.
Günther machte einige heuchlerische Redensarten und citierte dabei im stillen Hamlets: „Jetzt könnt’ ich’s thun — bei Gott, jetzt will ich’s thun!“
Unterwegs suchte er seine heute mehr als gewöhnlich stille Base vorsichtig über den wahren Grund von Renards Nervenverstimmung auszuforschen. Er wusste noch nicht, dass der alte Döhmke bereits seine Keulenschläge auf des Schuldigen Haupt geschmettert hatte, vielmehr gedachte er selbst die Rolle des olympischen Donnerers zu übernehmen. Die nötigen Redeblitze waren in der Werkstatt seines rachesinnenden Geistes schon längst zurechtgeschmiedet worden. Lori aber war klug genug, um aus seinen versteckten Anspielungen zu entnehmen, dass er um den Verdacht wisse, der über der Ehre ihres Mannes schwebte, und sie hütete sich wohl, in seine Schlingen zu treten. Sie hob vielmehr auf das nachdrücklichste hervor, dass der Schmerz über den Verlust seines Kindes ihm so tief ans Herz gegriffen habe. Bei dieser Gelegenheit habe sie selbst erst recht erkannt, wie sehr das allgemeine Urteil ihm unrecht thue, welches, wie sie wohl wisse, und wie auch Günther ihr schon angedeutet habe, ihm die Gemütstiefe abzusprechen geneigt sei.
Günther ärgerte sich nicht wenig über diese Wendung ihres Gesprächs. Er konnte doch nicht so brutal sein, gerade jetzt ihrem schönen Glauben die hässliche Wirklichkeit entgegenzusetzen! Den Rest des Weges suchte er daher mit gleichgültigen, scherzhaften Gesprächen zu verkürzen. —
In den Wandelgängen des Reichstags fanden sie den Freiherrn bereits ihrer wartend. Er ging ihnen mit ausgestreckten Armen entgegen und bemühte sich, höchst aufgeräumt und unbefangen zu erscheinen, was aber freilich nicht verhindern konnte, dass Tochter und Neffe ihm seine Aufgeregtheit auf den ersten Blick ansahen. Seine leicht ergrauten Locken erschienen noch wirrer denn gewöhnlich — ach, wie oft waren die zitternden Finger heute schon hindurchgefahren! Selbstverständlich sass auch die Krawatte so schief wie nur möglich, ja, zur Erhöhung der Feierlichkeit war auch noch die Weste falsch zugeknöpft, indem der erste Knopf in das zweite Knopfloch geraten war. Lori zog ihren Vater in eine Ecke und bemühte sich lächelnd um die Verschönerung seines äussern Menschen.
„Ihr werdet etwas Geduld haben müssen,“ sagte der Freiherr; „Eugen Richter macht heute dem Minister wieder besonders viel zu schaffen. Wahrscheinlich wird auch Bebel eine längere Rede halten — nun ja, es ist ja natürlich: die Sozialdemokraten sind ja bei diesem Vereinsgesetz am meisten interessiert. Aber nach Bebel komme ich! Oh, ich denke, meine Rede wird einiges Aufsehen machen! Bisher hat kein Mensch an die Freimaurerei gedacht, und man lässt sie ihre gefährliche Wühlarbeit ganz ungestört verrichten. Na, ich werde der Regierung endlich einmal die Augen öffnen.“
„Aber, lieber Onkel,“ wandte Günther ein, „hast du auch bedacht, dass Seine Majestät selbst das Haupt der Preussischen Loge ist?“
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