Egal, wie man zur historischen/naturwissenschaftlichen Glaubwürdigkeit steht, grundlegend ist immer die theologische Aussage dahinter. Den Schöpfungsbericht verstehen manche als wörtlichen Tatsachenbericht, manche lehnen ihn als wissenschaftliches Modell ab – in jedem Fall aber ist seine theologische Aussage autoritativ für Christen, die wie das Volk Israel im Alten Bund zur Heiligung gerufen sind. Echte „Heiligung“, d. h. Absonderung, zieht die Menschen an, statt sie abzustoßen (das verbindet auch mit dem NT [Röm 12,2]):
Siehe, ich habe euch Satzungen und Rechte gelehrt, so wie Jahwe, mein Gott, mir geboten hat, damit ihr also tut inmitten des Landes, wohin ihr kommet, um es in Besitz zu nehmen. Und so beobachtet und tut sie! Denn das wird eure Weisheit und euer Verstand sein vor den Augen der Völker, welche alle diese Satzungen hören und sagen werden: Diese große Nation ist ein wahrhaft weises und verständiges Volk. Denn welche große Nation gibt es, die Götter hätte, welche ihr so nahe wären, wie Jahwe, unser Gott, in allem, worin wir zu ihm rufen? Und welche große Nation gibt es, die so gerechte Satzungen und Rechte hätte, wie dieses ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege? (5Mo 4,5–8)
Hier wird nicht weniger ausgesagt, als dass, weit entfernt davon, abstoßend oder einengend zu wirken, das „Gesetz“, besser die Weisung Gottes nach dem AT, „Weisheit und Leben“ bedeutet und somit eine Anziehungskraft für die Völker entwickeln würde – wenn Gottes Volk daran festhielte. Als Israel ins verheißene Land kam, gab Gott ihnen das Gesetz, damit sie den umliegenden Völkern zeigen konnten, wie der Lebensstil des Königreiches Gottes aussieht. Nur ganz selten hat Israel dieses Ziel erreicht (1Kön 10,24 Und die ganze Erde suchte das Angesicht Salomos, um seine Weisheit zu hören, die Gott in sein Herz gegeben hatte). Jesaja entwirft das große Bild der Völkerwallfahrt, wo erneut Gottes Weisung und Wort die Massen anziehen werden (Jes 2,3).
Das Verbindende von AT und NT ist vor allem, dass der Vater Jesu der Gott Israels ist, der Gott des AT! Da durch Jesus etwas Neues geschah, ist damit zugleich der Unterschied beider Testamente gegeben. „So enthüllt das Alte Testament, wozu wir einen Heiland brauchen; das Neue verkündet diesen Heiland“. Das Alte Testament ist „weithin Zeugnis von einer konkreten Geschichte, in der Gott geredet hat. … Freilich eine Geschichte eigener Art: ‚Im vierten Jahre Jojakims, … geschah dies Wort an Jeremia vom Herrn‘ (Jer 36). … Das ist das Besondere dieser Geschichte, daß in ihr vom Handeln und Reden Gottes berichtet wird, als dem eigentlich Wichtigen.“78
Verheißung, eine zuversichtliche Erwartung dessen, was Gott in der Zukunft tun wird, gehört zu den Grundmerkmalen israelitischer Frömmigkeit (Ex 15,1–18; Num 23–24; Dtn 33; Gen 49). Von der Patriarchengeschichte bis zur Landgabe zeigt sich diese Hoffnung – „the theme of moving on to fulfillment“.79 Konkreter wurde dies in der Königszeit, in der Theologie des Davidischen Bundes (2Sam 7; Ps 2; 110). Der „Tag Jahwes“ war Element großer Erwartung im 8. Jh. (Amos 5,18–20).80 Aber das AT bleibt gewissermaßen „unvollständig“, es beschreibt Geschichte ohne ein Ende. Die Erfüllung steht noch aus. „Consummation of hope lies beyond the bounds of the Old Testament“.81 Das AT überliefert Heilsgeschichte, aber erreicht dieses Heil nicht.
It is just this fulfillment of unfulfilled promise, this of incomplete history, that the New Testament is principally concerned to affirm. … It does not consist in ethical or religious teachings but is a gospel. … Where the Old Testament expects, the New announces: It has happened! „The time is fulfilled, and the kingdom of God is at hand“ (Mk 1:15).82
Man sollte daher am Begriff „Altes“ Testament festhalten, denn „alt“ ist in keiner Weise antijüdisch; die Begriffe implizieren, dass es wirklich auch etwas Neues gibt. Das zeigt schon das AT selbst: Verheißung des neuen Bundes (berit Jer 31,31ff; 1Kor 11,25); Neues Herz (Ez 18,31; 36,26), Jesajas Antithesen von Neu und Alt (Jes 43,18ff; 48,6), Neues Lied (Ps 40,4; 144,9; Jes 42,10), Neuer Himmel und Neue Erde (Jes 65,17/Offb 21); Neues Jerusalem (Jes 62,2). Im NT entsprechend: 2Kor 3,6; Lk 22,20; 1Kor 11,25; Hebr 7,22; 8,6–9; Mt 7,1–23; Lk 11,20. Dadurch werden die beiden Testamente aufeinander bezogen, aber auch abgegrenzt.83 Das AT ist die Heilige Schrift der ersten Gemeinde und der Apostel! Es ist die Schrift, auf die Jesus sich beruft und die auf ihn weist.
Ulrich Wilckens schreibt über die Autorität des Alten Testaments:
Was … das Alte Testament betrifft, so ist zunächst noch einmal daran zu erinnern, daß dessen Zeugnis in der Urkirche nicht nur in fester Schriftform vorlag („es steht geschrieben“ …), sondern daß es eigentlich der „heilige“ Gott selbst ist, der in dem von Menschen „Geschriebenen“ zu Wort kommt. Weil Gott heilig ist, gelten die Schriften als „heilig“ (Röm 1,2). … Jede zitierte Schriftstelle ist insofern als Christuszeugnis immer auch Zeugnis des heilsgeschichtlichen Handelns Gottes in der Geschichte Israels, seines wirkkräftigen „Redens“ einst zu den Vätern und jetzt zu uns (Hebr 1,1f.). Darum ist die Schrift von göttlicher Autorität, so daß Paulus im Streit um die jeweils höchste Autorität von Menschen in der Gemeinde von Korinth die Grundregel aktuell zur Geltung bringt: „… nicht über das hinaus, was geschrieben steht!“ 1Kor 4,6).84
Das Alte Testament war die „Bibel“ Jesu und der Apostel. Die neutestamentliche Gemeinde griff für Verkündigung, Unterweisung und Gottesdienste auf das AT zurück, wie Jesus das auch getan hatte. Jesus fand seinen Weg im AT vorgezeichnet, sein Leben, Sterben, Auferstehen und weiteren Auftrag und Mission der Gemeinde lernte man von der Schrift her verstehen. Paulus und die anderen neutestamentlichen Schriftsteller können Jesus Christus gar nicht bezeugen, ohne beständig das AT aufzuschlagen. Ein Mitglied der Gemeinde Jesu musste dem AT glauben! Paulus, von Hananias mit Unterstützung eines Anwalts angeklagt, verteidigt sich vor dem römischen Stadthalter Felix mit einem außerordentlichen Bekenntnis: Er diene Gott in der Weise, dass er allem glaube, was nach dem Gesetz und in den Propheten geschrieben stehe (Apg 24,14). Gottesdienst heißt demnach für den Apostel auch und vor allem, den Schriften des Alten Testaments in ihrer Gesamtheit zu glauben! Deshalb muss auch heute die christliche Gemeinde das AT lesen, wenn es nicht zu einer Verflachung und Verfälschung des Verständnisses des NT kommen soll.
Dietrich Bonhoeffer schrieb am 2. Advent 1943 aus der Haft an seinen Freund Eberhard Bethge, er habe in den vergangenen Monaten „viel mehr A.T. als N.T. gelesen“ und kommt zu dem Urteil: „Wer zu schnell und zu direkt neutestamentlich sein und empfinden will, ist m. E. kein Christ“(!). Rechte Wertschätzung des AT ist ihm wichtig für den Amtsbegriff, für den Gebrauch der Bibel und für die Ethik. „Warum“, so schreibt Bonhoeffer, „wird im A.T. kräftig und oft zur Ehre Gottes gelogen …, totgeschlagen, betrogen, geraubt, … sogar gehurt (vgl. den Stammbaum Jesu), gezweifelt u. gelästert …, während es im N.T. dies alles nicht gibt? Religiöse ‚Vorstufe‘? Das ist eine sehr naive Auskunft; es ist ja ein und derselbe Gott.“85
Und Karl Barth erklärte in seiner Lehre vom Wort Gottes:
Wer das Alte Testament zu einer allenfalls entbehrlichen … Vorstufe der eigentlichen, der neutestamentlichen Bibel machen oder wer nun gar nachträglich die Streichung des Alten Testamentes … vollziehen will, …der setzt sich tatsächlich … mit der Entstehung und mit dem Sein der christlichen Kirche in Widerspruch, der begründet eine neue Kirche, die nicht mehr die christliche Kirche ist. Denn die kanonische Geltung des AT ist nicht nur keine willkürliche Ergänzung des evangelisch-apostolischen Christuszeugnisses durch die Alte Kirche, sondern sie war, … eben in dem evangelisch-apostolischen Christuszeugnis selbst, … in der neutestamentlichen Bibel selbst so begründet, daß diese, nur wenn man sie völlig unleserlich machen wollte, ohne jenen ursprünglichen Kanon als Zeugnis von Gottes Offenbarung gewürdigt und verstanden werden könnte. Ob es uns gefällt oder nicht: Der Christus des Neuen Testamentes ist der Christus des Alten Testamentes, der Christus Israels.86
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