So fühlten die Brüder Dinas, nachdem sie von der Vergewaltigung ihrer Schwester hörten (Gen 34,7 hitp.), so reagierte Jonatan, als er erfuhr, dass sein Vater David töten wollte (1Sam 20,34 ni.), so wird der Schmerz Davids beim Tode seines Sohnes Absalom beschrieben (2Sam 19,3 ni.). Von einer Frau, die von ihrem Mann verlassen wurde, heißt es in Jes 54,6, sie sei „verlassen und im Geist tiefbekümmert“ (q.). Noch zweimal – außer an unserer Stelle – wird das Wort auf Gott angewendet: In Psalm 78,40 (über Israel, das Gott oft „in der Wüste kränkte“ hi.) und in Jes 63,10 (das Volk, das „widerspenstig war und seinen Heiligen Geist betrübte“ pi.)! In dieser Vokabel schwingt demnach tiefe Trauer und das Gefühl des Verrats und der Verlassenheit mit.
Diese Emotion wird hier von Jahwe ausgesagt, der seine Geschöpfe vernichten muss! Im Gegensatz zu allen Göttern der Umwelt, die ihren Vernichtungsbeschluss stets nach der Tat bereuen (weil sie selbst von den Wassermassen bedroht werden oder verhungern, da keine Menschen mehr ihnen Speisopfer darbringen!), schmerzt Gott sein Beschluss vor der Aktion. Nicht aus Zorn, sondern in tiefer Anteilnahme ringt sich Gott dazu durch!108 Das ist übrigens ein weiteres Kennzeichen, womit Gott sich von den Göttern der Welt unterscheidet: An keiner Stelle der ersten Kapitel der Bibel, weder beim Sündenfall noch bei Brudermord, noch beim Turmbau, noch hier (!), ist vom Zorn Gottes die Rede! Im Buch Genesis wird nur einmal indirekt vom Erzürnen Gottes gesprochen, in Gen 18,30.32, wo Abraham für die möglicherweise vorhandenen Gerechten in Sodom und Gomorra mit den Worten eintritt: „Zürne doch nicht (al-na jichar), mein Herr, wenn ich weiterrede …“
Der erste Zornausbruch Gottes im AT geschieht im Kontext der Befreiung Israels aus Ägypten, in Ex 4,13–14 „und der Zorn des Herrn entbrannte gegen Mose“ (wajjichar-af adonai bemosche) – nachdem Mose sich zum fünften Mal (!) geweigert hatte, Gottes Sendung zum Heil seines Volkes anzunehmen, dies mit den Worten „sende doch, wen du senden willst“ (schelach-na bejad-tischlach) und danach in Ex 15,7–8 in Moses Lied der Rettung. Vom Zorn Gottes gegen sein Volk lesen wir zum ersten Mal in Ex 32, in der Erzählung vom Goldenen Kalb, „auffällig konzentriert (dreimal) in den Versen 7–14 … Das alttestamentliche Gottesvolk verwirft seinen Gott schon in der Stunde seiner grundlegenden Offenbarung, genauer: im ersten Moment, in dem es ohne seinen Führer und Mittler Mose ist … in Ex 32 ist vom Zorn Gottes nur die Rede, weil er nicht vollstreckt wird. Das biblische Israel bekennt mit der Erzählung in Ex 32 das Wunder seiner Existenz trotz todeswürdiger Schuld.“109 Der Gott der Bibel ist nicht getrieben von Zorn. Er reagiert jedoch heftig, wenn man sich seinem Heil und seiner Retterliebe widersetzt. Als er die Bosheit und Verlorenheit der Menschen sieht, tut es ihm leid um ihr Ergehen. Wir lesen von Reue und tiefem Schmerz. Auf das unheilbar böse Herz der Menschen (V. 5) reagiert Gott mit einem Herz, das Leid und Schmerz erwidert, ein Herz, das leidet, weil das Gericht unausweichlich ist.
Besonders in den Gerichtsworten der Propheten könne man „den Schmerz Gottes“ mithören, so der Neutestamentler Ulrich Wilckens, „der in seinem Wesen barmherzig und gnädig, gütig und treu ist, aber auf das Tun seines abtrünnigen Volkes entgegengesetzt reagieren muß und seinen Zorn nicht mehr hintanhalten kann. Dieser Gegensatz in Gott ist nahezu allen Propheten durchaus bewußt. An vielen Stellen klingen Elemente von Ex 34,6f. an, ja hier und da steht der ganze Wortlaut dieser ‚Gnadenformel‘ im Blick.“110
Dies wird bestätigt durch das Ende der Fluterzählung in Gen 8,21f, „wo JHWH seinen Vernichtungsbeschluss durch einen Akt der Barmherzigkeit zurücknimmt und damit den Fortbestand der Erde und ihrer grundlegenden Lebensrhythmen zusichert – obwohl die Schuld des Menschen unverändert weiterbesteht.“111 Diese Herzenswandlung Gottes aus Mitleid und Liebe begegnet auch bei Hosea 11,1–11. Israel, so Vers 7, hat sich nicht geändert (vgl. Gen 8,21), aber Gott (Vers 8 nehpach alaj libbi)112. Der Stimmungswandel Gottes von 6,5 zu 8,21 kann erklärt werden mit den nach der Flut geänderten Bedingungen (Noahbund als Bestandsgarantie des Lebens). Die Menschheit nach der Flut ist nicht besser als zuvor, nur wird Gott von nun an den jeweils einzelnen Täter zur Rechenschaft ziehen, nicht mehr das Kollektiv. Auch der religionsgeschichtliche Vergleich unterstützt diese Deutung: Im Gilgámesch-Epos wird der für die Flut verantwortliche Gott Enlil kritisiert:
Ea öffnet seinen Mund und spricht, er sagt zu Enlil, dem Helden, Du, der Weise unter den Göttern, der Held, wie nur konnte es geschehen, dass du keinen guten Rat erteiltest, sondern die Sintflut sandtest? Nur dem, er selbst eine Sünde beging, laste seine Schuld an! Nur dem, der eines Fehlers sich schuldig machte, laste seinen Fehler an!113
Das ist auch der Tenor des biblischen Berichts: Nicht mehr soll das Menschengeschlecht kollektiv bestraft werden. Nun soll mithilfe eines Rechtssystems das individuelle Fehlverhalten geahndet werden (vgl. Gen 9,6).114
» Gott reagiert im Gericht …
„Ich werde wegwischen …“ Gott ist nicht launisch, nicht gemütskrank oder grausam. Er sieht, dass der Mensch in seiner Freiheit dabei ist, die Hölle auf Erden zu schaffen, ein Leben in Gewalttat und Bosheit. Der gesamte Einflussbereich des Menschen ist infiziert, ist verdorben. Das Übel kann nicht mehr geheilt und rückgängig gemacht werden. Gott bewahrt das Leben auf die einzig mögliche Art: indem er den einzig „exemplarisch“ Gerechten bewahrt. Und so gibt es in diesem düsteren Gemälde einen hellen Schein.
» … und im Heil
„Aber Noah fand Gunst in den Augen des Herrn“! Was ist das für ein Mensch, der dem Gericht entkam? Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen war Noah ein rechtschaffener, durch und durch redlicher Mann, der in enger Verbindung mit Gott lebte. Die Augen Gottes, die zu Beginn all das Böse sahen, sehen mit Barmherzigkeit und Gunst auf den, der mit Gott lebt, der ihn sucht.
Vers 9:
Noah war ein gerechter Mann (isch zadiq)
und vollkommen (tamim) unter seinen Zeitgenossen;
Mit Gott wandelte (hithallech) Noah
Drei Dinge werden von Noah ausgesagt:
1. Er war „gerecht“, wie viele im AT. Zadiq begegnet 206-mal im AT, vor allem im Psalter und in den Sprüchen. Oft in Kontrast zum „Frevler, Bösewicht“ (Ps 1). Besonders von Menschen, die das Gesetz halten.
2. Er war „ganz, vollkommen“, eine schon seltenere Charakterisierung. Die Wortwurzel bedeutet „Ganzheit, Vollständigkeit“. Ein Fachwort für fehlerfreie Opfertiere (Lev 1,3 u. a.), das allein Gott dargebracht werden darf. Der tamim enthält sich allen Unrechts (Hes 28,15) und wandelt in Gottes Geboten (Ps 119,1). Beispiele sind Hiob und Abraham (Gen 17,1).
3. „… mit Gott wandelte Noah“. Das lesen wir nur noch von Henoch (Gen 5,24 wajjithallech chanoch et-ha’elohim)! In Noahs Fall steht Gott betont an erster Stelle (Gen 6,9 et-ha’elohim hithallech-noach).
Das heißt: Noahs Charakterisierung ist steigernd angelegt: gerecht – wie viele im AT > vollkommen – wie einige wenige > wandelte mit Gott – wie nur noch Henoch. Noah lebte zwischen zwei Zeitaltern, vor und nach der Flut, gewissermaßen zwischen zwei „Generationen“ (der hebr. Text Gen 6,9 hat den Plural „Generationen“ bedorotaw). In beiden war er der beispielhaft Gerechte! Und so lesen wir ganz am Ende des Flutberichtes etwas Merkwürdiges: Und Noah baute Jahwe einen Altar (Gen 8,20). Das erste Bauwerk, das in der „Neuen Welt“ errichtet wurde, war ein Altar für Jahwe, den Herrn über Leben und Tod! Nach der Krise, angesichts von Chaos und Schlamm, bevor er an ein Dach über dem Kopf denkt, betet dieser Noah Gott an. Folglich ist eben dies das Elementare für ihn, dass der Kontakt und das Zwiegespräch mit Gott nicht abreißen; folglich muss zuerst dieses Fundament gelegt sein, auf dem aller Aufbau und alles weitere Leben gegründet sein sollen.115
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