»Das ist doch lächerlich. Sie können doch nicht wissen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, und es kann wohl nichts schaden, wenn ich mit Olzén spreche.«
»Ich glaube, wir kommen hier nicht weiter. Sie können einen Brief schreiben und an uns schicken. Wir leiten ihn gern an ihn weiter. Dann kann er selbst entscheiden, ob er mit Ihnen sprechen will. Aber eigentlich können Sie sich die Mühe sparen – er wird nicht mit Ihnen reden wollen, aus berufsethischen Gründen.«
Monika spürte, wie die Wut in ihr hochstieg, was im Vergleich zu der Gleichgültigkeit der vergangenen Monate immerhin ein Fortschritt war.
Und es machte ihr Mut. Sie hatte Widerstand immer schon zu schätzen gewusst und würde nicht lockerlassen, bis sie Olzéns Nummer hatte.
Wer nicht durch die Tür ins Haus gelangt, muss eben das Fenster nehmen. Sie rief den Verlag an, der Olzéns Buch veröffentlicht hatte.
Sie überlegte, was sie sagen sollte. Die Wahrheit, dass sie eine Tochter war, die ihre Mutter suchte, schien als Strategie nicht zu funktionieren, jedenfalls hatte sie bei der Analytiker-Vereinigung keine Wirkung gezeigt. Monika entschied sich daher für eine andere Methode.
In ihrer Eile hätte sie sich der Verlagsangestellten beinahe als Kriminalkommissarin vorgestellt, ehe sie in letzter Sekunde auf Journalistin umschwenkte. Sie arbeitete angeblich an einer Reportage über Psychoanalyse und wollte deshalb gern mit Sören Olzén sprechen. Die Lüge kam ihr überraschend leicht über die Lippen, und als Belohnung erhielt sie ohne weitere Fragen seine Adresse und seine Telefonnummer.
Wenige Minuten später brachte sie mit derselben Leichtigkeit noch einmal die gleiche Lüge vor. Seine dünne Greisenstimme hatte der Journalistin, die ihn interviewen wollte, nichts entgegenzusetzen. Sie sei jederzeit willkommen, jedenfalls ab dem nächsten Tag, da er sich erst vorbereiten müsse.
Monika bemerkte, dass sich nicht nur das Zimmer verändert hatte – plötzlich hatten die Zeiger ihrer Uhr einen großen Sprung nach vorn gemacht. Die Minuten, die nach dem Unfall so lang gewesen waren, waren nun kürzer, strömten vorüber und waren unwiederbringlich verschwunden.
Sie bemerkte auch, dass sie Angst hatte.
Unmittelbar nach Babs’ Tod war sie in Monikas Träumen und Erinnerungen ebenso unkontrolliert aufgetaucht wie früher in ihrem Leben. Im Traum stand Babs zumeist in der Tür zu Monikas kleinem Zimmer. Es war spät, und im Schein der Dielenlampe konnte Monika nur eine dünne, dunkle Frauengestalt sehen, die sich schwankend gegen den Türrahmen lehnte und hungrig an ihrer Zigarette zog.
Angst und Sehnsucht keimten gleichzeitig in ihr auf, neutralisierten sich gegenseitig und wichen Enttäuschung und Zorn, nur um kurz darauf wieder aufzuflammen und jedes andere Gefühl zu überflügeln. Monika wollte Mammmmmaaaa schreien, wollte gestreichelt werden, und sei es mit noch so ungeschickter Hand. Doch gleichzeitig wollte sie nicht von Babs angefasst werden, da es keine echte Berührung war und sie am nächsten Morgen schon keine Gültigkeit mehr hätte. Sie wollte nicht, dass Babs hereinkam, und sehnte sich zugleich brennend danach, dass sie es tat.
Babs’ Auftauchen in Monikas Träumen hatte dieselbe Wirkung wie früher im Leben – wie erstarrt lag Monika da, wie gelähmt, konnte sich nicht rühren, war erfüllt vom raschen, ängstlichen Schlag ihres Herzens, eines Herzens, das sich in ihrem kleinen Brustkorb auszudehnen schien und sie im nächsten Augenblick in einer Explosion aus heißem Blut zerfetzen würde. Dieser Traum, diese Erinnerung hatten ihr viele Jahre Angst gemacht.
Mit anderen Erinnerungen an Babs wurde sie besser fertig. Einige wenige waren harmlos, wie zum Beispiel Babs hinter dem Verkaufstresen in der Kosmetikabteilung eines Kaufhauses, von wo aus sie Monika zuwinken konnte wie eine normale Mutter. Oder Babs’ Gesicht, wenn sie sich konzentrierte und Mund und Augenbrauen zusammenzog, was sie so witzig aussehen ließ, ein Gesicht, über das man sogar lachen konnte, das keineswegs beängstigend wirkte. Ebenso wie ihr seltenes, kumpelhaftes Lächeln.
Und jetzt wollte Monika dieses Muster durchbrechen. Sie wollte versuchen, sich deutlicher zu erinnern statt weniger – ein Gedanke, bei dem ihr Körper sich anspannte.
Aber andererseits hatte sie ja keine Wahl.
Sie musste es tun.
Und wenn nicht jetzt, wann dann?
Sie holte tief Atem und versuchte bewusst, die Mauer, die sie zwischen sich und ihren Erinnerungen an Babs errichtet hatte, zum Bröckeln zu bringen. Die Mauer wies ohnedies etliche Risse auf, die Bildern und Gedanken Durchlass gewährt hatten – sei es in nächtlichen Träumen oder in kleinen, beängstigenden Momenten im Alltag, wenn etwas eine magische Schleuse geöffnet hatte. Ab und zu reichte es, eine große schlanke Frau in einem bodenlangen Mantel davoneilen zu sehen, oder zu beobachten, wie sich das Gesicht einer jungen Frau verzog, wenn das Nikotin durch ihre Venen strömte.
Die Mauer war unzuverlässig gewesen, aber nun, da Monika versuchen wollte, sich ganz bewusst zu erinnern, hielt sie auf einmal stand.
Ihr wollte beim besten Willen nichts einfallen.
Doch sie brauchte diese Erinnerungen. Vielleicht lag die Antwort auf ihre Fragen in ihr selbst, irgendwo hinter der Mauer. Immerhin hatte sie mit Babs zusammengelebt, hatte sie gesehen, gehört, sie so geliebt, wie sie es eben gekonnt hatte, hatte sie gehasst und Angst vor ihr gehabt.
Sie machte einen neuen Versuch.
Doch da war nichts als Leere.
Sie war zu ihrer eigenen widerwilligen Zeugin geworden. Vor ihrem geistigen Auge entstand ein Bild von ihr selbst in zwei Versionen, die einander an einem Tisch in einem Verhörzimmer gegenüber saßen. Bei diesem Bild musste sie auflachen, und dann passierte es plötzlich.
Eine winzige Erinnerung tauchte auf, nicht an Babs selbst, sondern an das Gewimmel aus kleinen Tuben, Flaschen, Hülsen und Döschen um sie herum. Die meisten davon waren klebrig, staubig und verschmutzt, als hätten sich die unterschiedlichen Produkte miteinander vermischt, während sie in Schminkbeuteln, Handtaschen, Küchenschubladen, Manteltaschen oder einfach an der Stelle lagen, wo Babs sie gerade deponiert hatte. Das Bild erweiterte sich zu einem Bild von Babs’ Haut – sie war hell und leicht sommersprossig gewesen, abgesehen vom Gesicht, wo sie einen gleichmäßigen matten Beigeton aufwies. Auf ihren Wangen waren dunkelrote Striche zu sehen gewesen, die die Wangenknochen betonten – das hatte Babs gesagt –, obwohl Monika im ovalen Gesicht ihrer Mutter niemals Wangenknochen entdeckt hatte. Dieses Gesicht, diese Schminke hatte sie nie berühren dürfen.
Monika fragte sich unvermittelt, ob ihre eigene Abneigung gegen Make-up darin begründet sein könnte.
Das musste reichen. Sie war völlig erschöpft.
Außerdem brauchte sie unbedingt jemanden zum Reden. Sie schaffte es nicht, ihre Gedanken ganz allein zu ordnen, und es gab nur einen, an den sie sich wenden konnte: Mikael, ihren besten Freund. Er war zwar gerade erst mit Patrik zusammengezogen, aber sie würde eben sehen müssen, wie sich ihr Verhältnis nach dieser Veränderung entwickelte. Sie war den beiden aus dem Weg gegangen, um nicht zu stören, was ihr mit einem Mal reichlich töricht vorkam.
Sie rief an. Mikael war am Apparat und schien sich zu freuen.
»Wie schön, dass du anrufst – hier ist es ein bisschen chaotisch, aber damit kannst du sicher leben. Klasse!«
Auf dem Weg zum Jaktvarvsplan kam sie am Revier vorbei. Der gewaltige Gebäudekomplex lag vor ihr wie die ehelichen Besitztümer nach einer Scheidung – verlassen, aber verkrampft durch so übersteigerte unrealistische Hoffnungen, durch so viel falsch investierte Zeit, dass Monika sich abwenden musste. Zwischen ihr und der Wache gab es keine Verbindung mehr. Eilig ging sie weiter, während sie überrascht feststellte, dass sie sich schämte, wie ein hinterhältiger Liebhaber oder eine treulose Ehefrau.
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