Monika ging zurück zum Bücherregal. Dort hatte Niels nicht so sorgfältig Ordnung geschaffen wie in der übrigen Wohnung. Die Bücher der Großmutter standen immer noch da. Ihre dreibändige Autobiografie. Monika hatte sie nie gelesen – teils, weil sie sich an Babs’ Reaktion auf den dritten Band erinnerte. Monika zog ihn hervor – ja, er war noch immer verzogen, und die eine Ecke war geknickt, weil Babs das Buch an die Wand geworfen hatte, als sie festgestellt hatte, dass sie nicht darin vorkam. Wer es nicht besser wusste, hätte durchaus glauben können, Babs habe niemals existiert, sei niemals geboren worden. Der trockene Kommentar von Monikas Großmutter, das Buch handele von dem, was in ihrem Leben wichtig war, nämlich von dem, was sie geleistet hatte, war ebenfalls alles andere als hilfreich gewesen. Auf dem Vorsatzblatt stand mit schwarzer Tinte und kleiner Handschrift:
»Für meine liebe Ellen von Mutter.«
Die Lektüre dieser Bücher wäre Babs gegenüber unsolidarisch gewesen, außerdem waren sie schwer verständlich und langweilig, zumindest hatte Monika es als Zwölfjährige so empfunden.
Aber vielleicht halfen sie ihr weiter, schließlich hatte die Großmutter Babs ihr Leben lang gekannt.
Als Monika das Buch in der Hand hielt, musste sie wieder an die Beerdigung der Großmutter denken. Damals sie war siebzehn gewesen, und sie und Niels hatten als die einzigen Verwandten daran teilgenommen. Aber es war eine große Trauerfeier gewesen. Was der Großmutter an Verwandtschaft gefehlt hatte, hatte sie durch ihre beruflichen Kontakte wettgemacht. Es hatte viele prachtvolle Kränze gegeben – von der UNO, vom Außenministerium (ein Kranz in den schwedischen Landesfarben), von Organisationen und Verbänden jeglicher Art.
Die Frau, über die der Pastor sprach und die so vielen Menschen offenbar so viel bedeutet hatte, hatte kaum Ähnlichkeit mit Monikas vagen Erinnerungen an ihre Großmutter besessen. Die Großmutter war groß, sehnig und ungeduldig gewesen, und bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie einander begegnet waren, hatte Babs sich stets seltsam angespannt und schnippisch gezeigt. Monika war so gut wie nie allein mit ihrer Großmutter gewesen, erinnerte sich aber noch genau daran, dass sie ständig hatte wählen müssen – zwischen Puppen, die sie nicht haben wollte, zwischen Kuchen, von denen sie wusste, dass sie sie niemals aufessen würde. Sie erinnerte sich an die Gereiztheit ihrer Großmutter und an ihre eigene Unzulänglichkeit: nicht einmal eine so einfache Wahl konnte das Kind treffen. Es waren alte, undeutliche Erinnerungen, die das Gedächtnis zu einer Stimmung, zu einer Reihe verblasster Empfindungenreduzierte.
Aus einem Impuls heraus nahm Monika alle drei Bücher mit, als sie ging. Das erste hieß »Anlauf« und behandelte die Jugend der Großmutter in Sundsvall, der zweite Band mit dem undurchsichtigen Titel »Der Einsturz des Weltengebäudes« schilderte die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg, und das letzte hieß »Die Jahre bei den Vereinten Nationen«. Der Umschlag des ersten Bandes zeigte Schwarzweißbilder der Großmutter als weißblonder Backfisch, den Blick in die Ferne gerichtet. Der zweite bestand aus einer Collage – die Großmutter, Mussolini und ein geschmeidiger, braunhäutiger Mann mit würdevoller Haltung und festem Blick. Der dritte Umschlag war so nichtssagend wie der Titel. Vor dem UNO-Gebäude war die Großmutter an einem Rednerpult zu sehen.
Auf dem Heimweg schmiedete Monika Pläne. Sie wollte wissen, ob Fräulein F. Babs war – und wenn Niels nicht mit ihr reden wollte, musste sie eben Olzén fragen.
Sie hoffte nur, dass er noch lebte. Und dass die gesuchten Informationen noch in der kollektiven Datenbank namens Menschenhirn zu finden waren.
Zum ersten Mal seit langer Zeit kam sie gern nach Hause. Sie hatte eine Aufgabe, ein Ziel, und die freie Zeit, die vor ihr lag, hatte plötzlich einen Sinn, statt ein Problem darzustellen.
Wie immer fing sie mit dem einfachsten Teil der Aufgabe an. In diesem Fall griff sie zum Telefonbuch. Als sie die Hand danach ausstreckte, schien etwas mit dem Zimmer zu geschehen: das Licht war mit einem Mal schärfer, und es wurde kälter. Ihr Körper verriet Monika, dass jetzt der Arbeitsgang eingeschaltet war, ob sie wollte oder nicht. Offenbar glaubte ihr Körper, dass sie mit einer neuen Ermittlung begann. Monika staunte, dass ihr Körper sie so verraten konnte.
Sie wusste, dass dies keine normale Ermittlung war, was auch immer ihr Körper glauben wollte, sie wusste es, obwohl sie von einem höchst vagen Verdacht ausging und die Wahrscheinlichkeit, mehr als zwanzig Jahre zurückliegende Sachverhalte aufklären zu können, gering war. Gleichzeitig fragte sie sich, ob es ein formaler Fehler war, sich in ihrer eigenen Branche sozusagen freiberuflich zu betätigen. War sie überhaupt befugt, eine inoffizielle kleine Mordermittlung in eigener Sache zu starten?
Sie unterbrach sich bei diesem Gedanken. Das hier war keine Mordermittlung, sondern sie war einfach eine Tochter, die wissen wollte, was mit ihrer Mutter passiert war. Daran konnte ja wohl niemand Anstoß nehmen.
Und, Fehler hin oder her, der Startschuss war gefallen.
Sie blätterte im Telefonbuch.
Olzén, das konnte kein gängiger Name sein, sondern eine Variante, die Namen wie Olsson und Nilsson und Andersson in individuellere, historisch gesehen jedoch belanglose Nachnamen verwandelte.
Einen Sören Olzén gab es nicht. So leicht sollte es also nicht sein.
Der nächste Schritt war die Auskunft – er konnte immerhin nach Sigtuna oder Vadstena oder an einen anderen ruhigen Ort gezogen sein, wo alte Leute gern ihren Lebensabend zubrachten.
Aber das hatte er offenbar nicht getan, denn er hatte eine Geheimnummer, was annehmen ließ, dass er noch lebte und nach wie vor in Stockholm wohnte.
Also musste sie ihr Glück beim Berufsverband versuchen, den sie im Telefonbuch fand: die Psychoanalytische Vereinigung.
Eine freundliche Frauenstimme meldete sich, und Monika schilderte ihr Anliegen.
»Soll das heißen, Sie wissen nicht, ob Ihre Mutter bei Herrn Olzén in Behandlung war?«
»Ja. Aber als ich sein Buch gelesen habe, kam mir der Verdacht, das meine Mutter Patientin bei ihm war.«
»Was ist danach aus ihr geworden?«
»Nichts Gutes. Sie ist gestorben. Und in seinem Buch behauptet er, dass sie, wenn sie es denn tatsächlich war, ermordet worden ist.«
»Und Sie wissen auch nicht, ob Ihre Mutter ermordet worden ist?«
»Nein, deshalb würde ich ja gern Kontakt zu ihm aufnehmen.«
»Und wie alt waren Sie, als das passiert ist?«
»Zwölf.«
Das Gespräch wurde langsam zum Verhör.
»Über das alles möchte ich mit ihm selbst sprechen. Ich wollte Sie wirklich nur um seine Telefonnummer bitten«, sagte Monika.
»Seine Geheimnummer?«
»Ja.«
»Dann haben Sie wohl nicht verstanden, warum er eine Geheimnummer hat. Bei unserer Arbeit stoßen wir auf so viele Probleme, auf so vieles, das starke Gefühle weckt. Nicht alle können uns als Fachleute und Privatpersonen auseinander halten. Ich gebe Ihnen den Rat, falls Sie nicht damit fertigwerden, dass Ihre Mutter Sie in einem so verletzlichen Alter im Stich gelassen hat, und ich kann wirklich verstehen, dass so etwas möglich ist, jedenfalls lautet mein Rat, suchen Sie sich einen eigenen Therapeuten, mit dem Sie über das alles reden können.«
»Ich will aber keine Therapie machen. Ich werde doch das Recht haben zu erfahren, ob meine Mutter bei diesem Olzén in Behandlung war.«
»Wenn sie bei ihm in Therapie oder Analyse war und zu Hause nichts davon erwähnt hat, dann hatte sie sicher ihre Gründe. Er musste ihren Wunsch respektieren und auf ihrer Seite stehen, auch wenn sie jetzt tot ist, und auch wenn er aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz über sie geschrieben haben sollte.«
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