Noch dazu war es unverständlich und hörte sich alles andere als normal an.
Monika las weiter.
»Ihr Leben endete – wenig überraschend – jäh und brutal, als sie im Alter von fünfunddreißig Jahren ermordet wurde, vermutlich von einem Mann, dessen Verteidigungsmaßnahmen nicht ausreichten, um den heftigen Hass zu bezwingen, der durch die ungelösten Überführungsbeziehungen entstand, die sich einstellten, als Fräulein F.s unintegrierte infantile Wut auf die Menschen in ihrer unmittelbaren Nähe projiziert wurde.«
Fräulein F. war mit fünfunddreißig Jahren gestorben, genau wie Monikas Mutter.
Das konnte kein Zufall mehr sein.
Aber Fräulein F. konnte unmöglich ihre Mutter sein. Ihre Mutter war nicht ermordet worden. Und bei einem Psychologen war sie auch nicht in Behandlung gewesen.
Oder vielleicht doch? Monika ging auf, wie wenig sie über sie wusste. Über ihre Mutter wurde so selten gesprochen, dass allein Monikas Existenz einen unwiderlegbaren Beweis dafür bot, dass sie überhaupt gelebt hatte.
Es war unbegreiflich. Von dem, was Monika verstand, stimmte alles, bis auf den Kontakt zu diesem Psychoanalytiker und auf den Mord. Danach stimmte gar nichts mehr.
Sie legte das Buch beiseite. Das hier brachte doch nichts.
Sie wurde wütend. Was bildete sich dieser Autor eigentlich ein? Wie konnte er auf diese Weise über eine Frau schreiben, die dadurch wiederzuerkennen war?
Olzén hieß er. Sören Olzén, Psychoanalytiker.
Sie griff wieder zu dem Buch und schlug das Erscheinungsjahr des Buches nach. 1992. Damals war ihre Mutter seit fünfzehn, ihre Großmutter seit zehn Jahren tot gewesen. Vielleicht hatte der Autor geglaubt, es spiele keine Rolle mehr, er könne über Leute, die durch ihren Tod ihre Menschenrechte eingebüßt hatten, sagen, was er wollte. Oder hatte er vielleicht zwei Patientinnen miteinander vermischt – hatte er die Geschichte von Monikas Mutter genommen und mit dem Tod einer anderen Patientin verbunden?
Diese Frage ließ ihr keine Ruhe. Monikas Gehirn, das sich in letzter Zeit so sehr mit fruchtlosen Überlegungen über ihre Zukunft und der Frage beschäftigt hatte, wieso alles so schief gegangen war, stürzte sich dankbar auf diese neue Problematik.
Sie räumte das Frühstücksgeschirr weg und versuchte sich auf diese Tätigkeit zu konzentrieren, was ihr jedoch nicht gelang. Ihre Gedanken kreisten unablässig um Olzéns seltsamen Text.
Eine Bewegung unten auf dem Hof erregte ihre Aufmerksamkeit. Eine junge Frau in einer verschlissenen Jacke stemmte sich mit einer Zigarette in der einen und einer Einkaufstüte in der anderen Hand gegen den Wind. Ihr folgte ein kleines Mädchen, dessen abgenutzter roter Overall an den Beinen Falten warf. Die Ärmel waren so lang, dass die Hände der Kleinen nicht zu sehen waren. Das Ganze wurde von einer schief sitzenden, flauschigen weißen Mütze gekrönt.
Die Winterstiefel der Kleinen waren klobig, so dass sie plötzlich stolperte und der Länge nach auf den Asphalt fiel, sich jedoch rasch wieder aufrappelte. Soweit Monika sehen konnte, schrie sie nicht, sondern rannte einfach so schnell weiter, wie sie in ihrer dicken Kleidung konnte, und versuchte, ihre Mutter einzuholen, die ihr Tempo nicht verlangsamt hatte. Monika spürte den starren Nylon und die Füße, die in den breiten Stiefeln herumrutschten, fast am eigenen Leib. Dann hatte die Kleine die Mutter erreicht und griff vorsichtig nach der Tüte. Die Mutter blickte nach unten, schien sie aufzufordern, loszulassen, und zog abermals an ihrer Zigarette. Sie hatte die schmalen Schultern hochgezogen, gegen die Kälte, gegen den Wind, gegen die Armut.
Beeindruckt von der Entschlossenheit der Kleinen, wählte Monika die Telefonnummer ihres Vaters. Sie musste in Erfahrung bringen, ob ihre Mutter Olzéns Patientin gewesen war.
Besetzt.
Während sie wartete, liefen ihre Gedanken abermals mit ihren Gefühlen um die Wette. Was sollte sie sagen?
»Hallo, wie geht’s dir? Weißt du zufällig, ob Mama psychisch krank war und von einem Psychanalytiker behandelt wurde?«
Unmöglich.
»Hast du je von einem Psychologen namens Olzén gehört?«
Auch unmöglich.
Also fragte sie, ob sie kurz vorbeikommen könne – seine Wohnung war nur fünf Gehminuten von ihrer entfernt, in einem Haus, das nach demselben Plan gebaut war wie alle Häuser in der Gegend.
Er schien sich über ihr Kommen zu freuen, und das machte ihr ein schlechtes Gewissen. Es würde kein schmerzloser Besuch werden, daran bestand kein Zweifel.
Monika wusste, wie ihre Mutter ums Leben gekommen war. Sie war ein kleines Stück von ihrer Wohnung entfernt auf einem Zebrastreifen überfahren worden. Doch Monika hatte keiner Menschenseele jemals verraten, dass sie alles gesehen hatte.
Sie war auf dem Heimweg von einer Freundin gewesen, an einem späten, fast stockdunklen Novembernachmittag. Es hatte heftig geregnet, und der Regen war so kalt gewesen, dass er fast schon in Eisregen übergegangen war. Als Monika um die Ecke bog, sah sie eine Menschenmenge, die sich um ein kleines schwarzes Bündel unmittelbar neben dem Bürgersteig scharte. Auf der anderen Seite des Bündels waren buschige schwarze Haare zu sehen, bei denen es sich jedoch nicht um Haare handelte, sondern um einen Kragen aus Webpelz, einen Kragen, der Düfte ansammelte und an den Monika manchmal heimlich ihre Wange schmiegte. Die hintere, dem Gesicht zugewandte Seite, war von Creme beige verfärbt.
Was hatte dieser Kragen auf der Straße zu suchen? Wieso lag er im Rinnstein, im Schneematsch? Monika wurde von einer Stille erfasst, die sich immer dann über sie legte, wenn in ihrer Nähe eine Katastrophe drohte. In diesem Kragen, in diesem Mantel durfte ihre Mutter nicht stecken. Das reglose Bündel musste etwas sein, das jemand verloren hatte, irgendjemand, der einen ähnlichen Geschmack besaß, hatte auf dem Weg zur chemischen Reinigung etwas fallen lassen. Aber so war es nicht. Die Leute rannten umher, und ihre Körpersprache verriet, dass etwas passiert war, dass niemand etwas verloren hatte.
Monika stand stocksteif und unsichtbar da und weigerte sich, zu glauben, was sie sah. Es war drei Tage vor ihrem dreizehnten Geburtstag.
»Mama«, murmelte sie, aber vielleicht dachte sie es auch nur. Ihre Mutter reagierte nicht, wie so oft, nur dass es diesmal endgültig war.
Später, als der Krankenwagen fort war, war sie wie betäubt nach Hause gegangen, hatte die leere Wohnung betreten, in der es ebenfalls nach Rauch und Parfüm roch. Ihr Vater kam immer erst gegen halb sieben nach Hause, und sie hatte auf ihn gewartet, ohne ans Telefon zu gehen, das alle fünf Minuten läutete, ohne Licht zu machen, ohne zu denken.
Als ihr Vater nach Hause kam und sie im Dunkeln sitzen sah, schaltete er die Lampen ein und nahm das Telefon ab. Sein Gesicht lag im Schatten, deshalb hatte Monika seine Miene nicht erkennen können, sondern hatte nur gesehen, wie er die Schultern anspannte, während sein Körper in sich zusammensackte. Das Gespräch war ziemlich wortkarg verlaufen.
»Ja, ich bin das . . . woher? Ja, das ist meine Frau . . . was? . . . wann? . . . sicher? Ich kann sofort kommen.«
Er hatte weiter ins Leere gesprochen, nachdem er aufgelegt hatte, obwohl er sich Monika zuwandte, die hinter ihm auf dem Sofa saß.
»Das war das Krankenhaus. Mama hatte einen Unfall, ich muss hin. Du wartest hier, oder, nein, geh nach unten zu Ahlgrens. Nein, warte, ich komme mit.«
Sie waren die beiden Treppen zu den Ahlgrens hinuntergegangen, deren Tochter in Monikas Klasse ging. Monikas Vater hatte mit Frau Ahlgren gesprochen, als wäre nichts Außergewöhnliches passiert. Es war ihr deutlich anzusehen gewesen, dass ihr Monikas Besuch ungelegen kam, aber niemand konnte schließlich ein Kind zurückweisen, dessen Mutter eben überfahren worden war.
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