Wie ein fressendes Gift nistet sich der Hass in seinem Herzen ein und raubt ihm Ruhe und Frieden. Warum ist er nicht längst gegangen? Er kann sich nicht losreissen. Immer noch wartet er auf die Fügung des Schicksals, die ihm zu seinem vermeintlichen Recht verhilft. Zeit und Stunde hat er über die Grübeleien vergessen. Er schlägt die Augen auf. Hart am Bergrand führt jetzt der Pfad entlang. Steil fällt die Felswand in die Tiefe. Unten liegen Steinblöcke und Geröll. Auch das Becken der Breg ist damit angefüllt, so dass der Fluss an dieser Stelle wie ein Wildbach dahinbraust. Wer da hinunterstürzt, wird sich nie wieder erheben. Sträucher mit grossen roten Himbeeren bedecken die Bergkuppe, ihre Zweige schweben zwischen Himmel und Erde.
Wo ist Adam? Vor Schreck stockt dem Träumer der Herzschlag. Einem inneren Befehl gehorchend, stellt er die Last zu Boden. Dicht am Rande steht der Kleine und pflückt arglos die süssen Früchte. Er achtet nicht der drohenden Gefahr. Ein einziger Schritt genügt, und es ist um ihn geschehen. Schon will Andres hinstürzen und den Ahnungslosen zurückreissen. Da kommt ihm ein teuflischer Gedanke: das ist der Wink des Schicksals! Weit und breit ist niemand zu sehen. Ein Unglücksfall! Kein Mensch ist Zeuge. Reichtum und Besitz sind dein!
Langsam, Schritt um Schritt, nähert er sich dem Bruder. Jetzt steht er hinter ihm. Fast unbewusst streckt er den Arm aus. In der nächsten Sekunde wäre es geschehen. Da gellt ihm ein Schrei in die Ohren: „Andres! Greif zu!“ Und er packt den Kleinen, als ihm der abschüssige Boden unter den Füssen wegsackt und Erde und Gestein zu Tal stürzen. Er hält ihn, der schon in den Abgrund zu versinken droht, und reisst ihn zurück.
„Bist ein braver Bub! Das hast du gut gemacht! Werde es deinen Eltern erzählen!“
Adam sieht sich erstaunt um. Er versteht nicht, was geschehen ist. Er fühlt nur, einer grossen Gefahr entronnen zu sein.
„Bist ja kreideweiss, Andres. Komm, setz dich! Die Beine versagen dir schier den Dienst.“
Liebkosend streicht der Mann durch das volle Haar des Jünglings. Andres zittert am ganzen Körper. Er wagt nicht, die Augen aufzuschlagen. Vor ihm steht eine lange, hagere Gestalt mit einem gutherzigen Gesicht. Auf dem Rücken trägt sie eine hohe Kiepe. Es ist der Bürstenkarle, der seine Ware von Ort zu Ort, von Hof zu Hof feilbietet. Auf der Taufe des Adam hat er die Fiedel gespielt.
Andres schämt sich bis in den Herzensgrund hinein. Um ein Haar wäre er zum Brudermörder geworden, und jetzt wird er von dem Arglosen für seine Schlechtigkeit obendrein belobt. „Schweig darüber, Karle, Vater und Mutter geht die Sache nichts an!“
„Doch! Hören sollen sie, wie du dein Leben dran gesetzt hast, das Brüderchen zu retten!“
„Ich will’s nicht, dass du’s sagst! Warum sie in Angst und Schrecken versetzen! Ist ja alles gut —, ja, nun ist alles gut.“
Der Bürstenkarle denkt: wie sonderbar der Junge spricht, wie unruhig seine Augen flackern. Es wird der ausgestandene Schrecken sein. Dann sagt er: „Ich muss nun fort. Gib gut acht auf den Kleinen!“, und er geht bedächtig davon.
„Sei unbesorgt, ich werd’ gut acht geben!“ ruft ihm der Andres nach, und die Stimme klingt, als werde sie aus tiefster Angst und Reue hervorgestossen. Ganz still sitzt der Bursch. Die Hände hält er ineinander verkrampft, Tränen rollen ihm über die Wangen.
„Andres, was hast du?“ fragt Adam mit heller Kinderstimme und streicht ihm übers Gesicht. Andres stösst den Bruder entsetzt zurück, reisst ihn aber im nächsten Augenblick an sich und liebkost ihn, wie er es nie getan hat. Dabei stösst er unverständliche, abgebrochene Worte hervor. „Ein Lump bin ich!“ Das hat der Kleine verstanden. Mit seinen drei Jahren weiss er nicht, was ein Lump ist. Doch dass es etwas Hässliches sein muss, begreift er. Sein kleines Herz ist voll von Mitleid. Aber irgendwo in seinem Gedächtnis setzen sich die Worte fest: „Ein Lump ist der Andres“ und bleiben haften fürs ganze Leben.
*
Wohl eine Viertelstunde Wegs von Vöhrenbach, an einen kahlen Hügel gelehnt, steht das altehrwürdige Haus des Uhrmachers Nepomuk Grieshaber. Es schaut anders als die Gebäude im Schwarzwald aus. Die langen, gekuppelten Fensterreihen sind nachträglich eingebaut. Die vielen Scheiben sind dem Lichte zugewandt.
Leo tritt aus dem Haus. Er ist ein schmalgebauter junger Mann mit einem verträumten Gesicht und freundlichen Augen. Er hat dunkles, lockiges Haar und lange Hände. Sein Anzug ist von peinlicher Sauberkeit.
Freudig eilt Leo dem vom Walde heraufkommenden Andres entgegen, um ihn von der Last zu befreien. Das ist aber nicht leicht, denn der Adam hat sich an seinen Hals gehangen, herzt und küsst ihn und will ihn gar nicht wieder loslassen.
An Holzstössen vorbei führt der Pfad. Hektor, der Haushund, springt freudig bellend an den Brüdern hoch. Nun steigen die drei ein paar ausgetretene Steinstufen empor und gehen durch einen engen, dunklen Gang. Der weisshaarige Meister Nepomuk und das zarte Vrenili begrüssen die Gäste. Adam läuft zur Werkstatt, wo es die vielen seltsamen Dinge zu sehen gibt. Strahlend hell ist es hier. Die Lichtflut strömt über die unmittelbar an der Fensterreihe sich hinziehende Werkbank. Ein wirres Kunterbunt zahlloser Uhrteile und Geräte liegt darüber zerstreut. Links ist der Drehstuhl befestigt. Grieshabers Vater und Grossvater haben schon an ihm hantiert. Tiefe Buchten wetzte er im Laufe der Jahrzehnte in das Holz. Von der Decke herab ist ein drehbares Gestell, die Werkzeugdrille, angebracht, all das tragend, was schnell zur Hand sein muss. An den Fensterpfosten hängen Drähte, Ketten, Räder und mancherlei andere Gegenstände, und inmitten dieses Durcheinanders stehen einige Topfpflanzen, deren Blumenpracht etwas Sonntägliches über die nüchternen Dinge des Alltags breitet.
Doch für all das hat der kleine Adam kein Auge. Seine Aufmerksamkeit fesseln die an den Wänden klebenden Uhren, von denen lange Ketten und Bleigewichte herunterhängen. Der Leo zeigt ihm die Wunderwerke und zaubert mit wenigen Griffen ihre verborgenen Geheimnisse zutage. Schau nur, dort auf dem Werkkasten der Wanduhr steht eine Mönchsfigur. Jetzt läutet sie auf einer kleinen Messingglocke die Betstunden. Und nun beginnen die dahinter liegenden sechs Glasglöckchen sich zu bewegen, und es tönt eine zarte Weise durch den Raum. Der Bub kommt aus dem Staunen nicht heraus. Die Nachbaruhr mit dem hübschen, geschnitzten Gehäuse spielt gar ein richtiges Musikstück!
„Was ist denn das?“
„Eine Schnappuhr.“
Auf den lackierten Schild ist ein grimmiger Türkenkopf gemalt, einer jener schlimmen Heiden, die noch vor wenigen Jahren Wien bedrohten und von denen ungeheuerliche Greuelgeschichten erzählt werden. Bei jedem Pendelschlag rollt er die Augen, öffnet den grossen Mund und schnappt zu. Adam drängt sich unwillkürlich schutzsuchend dichter an seinen grossen Bruder heran.
Da gefällt ihm die nächste Uhr schon besser. Ein Knabe sitzt auf einer Schaukel. Hei, wie lustig er auf und nieder schwingt und nie müde dabei wird!
So sind noch mancherlei schnurrige Dinge zu bewundern. Endlich ist der Rundgang beendet. Alle gehen ins Zimmer, wo die Grieshaberin schon den Tisch gedeckt hat. Kuchen und Ziegenmilch sind zu Ehren der Gäste aufgetragen, doch Andres gibt keine Ruh’, er muss nach Vöhrenbach hinein, hat dort etwas Eiliges zu besorgen.
Leo packt die schönen Sachen aus, die ihm die Eltern bringen lassen. Der Meister und die Meisterin stehen mit blanken Augen dabei. All das kommt ihnen ja mit zugute. Der Berghofbauer schickt es nur deshalb an den Sohn, um den beiden Alten das Danken zu ersparen. Daher geben sie dem Andres stets ein „Vergelt’s Gott!“ mit auf den Weg.
*
Vor dem verwahrlosten Haus des Maurermeisters Wendelin Dorer steht der Andres und betrachtet die ungeputzten Fenster und die schmutzige Hauswand. Endlich zieht er am Strang. Schrill läutet die Glocke. Eine geraume Weile rührt sich nichts, bis eine missmutige Weibsstimme ruft:
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