Mit jenen beiden Begebenheiten findet eine lange Geschichte ihren Abschluss. Sie berichtet von den Schicksalswegen der Berghofdorer; von Glück und Leid, Schuld und Sühne, Niedergang und Wiederaufbau!
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Dicht bei Furtwangen, etwa auf halber Höhe zwischen Gipfel und Talsohle, liegt der Berghof. Über ihm erhebt sich der Wald mit uralten, gen Himmel ragenden Baumriesen. Hell und freundlich ist heute das Grün der Tannen, prangen sie doch im frischen Frühlingskleid. Unter der Holzbrücke jagt die breite Breg dahin. Kristallklar ist ihr Wasser. Hier und dort steht eine Forelle in der Sonne, bis sie wie der Blitz davonschiesst. Der Fluss hat sich in blumenbunte Wiesen eingebettet. Linker Hand zieht sich in vielen Krümmungen die Landstrasse hinauf. Hin und wieder fährt ein Ochsengespann vorüber, auch mal ein von Pferden gezogener Bauernwagen. Vereinzelt ist dort, wo sich die Hügel erheben, ein Haus erbaut. Ringsumher reiht sich Anhöhe an Anhöhe, Berg an Berg. Teils reicht der Forst noch hart bis an das Ufer der Breg heran, aber meistens hat die Axt die Baumbestände schon arg gelichtet, und wo sich einst dichter Wald befand, haben Menschenhände Matten und Kornfelder geschaffen. Von den Weiden klingt das Läuten der Kuhglocken. Der Fremde glaubt, einen einzigen Ton zu hören, aber der Hirtenbub weiss, dass jede Glocke einen anderen Klang hat, und hieran erkennt er ihre Trägerin, ohne sie zu sehen.
Bei der Brücke zweigt sich ein Weg von der Landstrasse ab, steigt allmählich bergan und mündet vor dem wuchtigen Haus des Berghofes. Ein Dutzend kleiner Fenster mit weissen Rahmen, sauberen Gardinen und Blumen blicken vom ersten Stockwerk hernieder. Darüber hängt eine Galerie. Sie wird von dem weit vorspringenden, schindelgedeckten Dach überragt, das an der Rückseite des Gebäudes, wo sich auch Ställe und Scheune befinden, den Erdboden berührt. Im Vorderbau, der infolge des abfallenden Geländes einen vollen Stock Raumgewinn aufweist, tritt es zurück, damit auch in die Gesindestuben Licht und Sonne dringen. Hinter dem Berghof stehen einige Fruchtbäume, Kirschen, Äpfel und Birnen. Ein wenig oberhalb des Hauptgebäudes sind das Milchhaus und die kleine Kapelle mit dem Zwiebeltürmchen errichtet. Sie bilden gleichzeitig einen Schutzwall gegen Sturm und Unwetter.
Sonntag ist heut! Aber nicht nur das, Festtag ist obendrein! Der Xaver Dorer und seine Monika feiern Kindtauf’! Ein Nachzügler ist eingetroffen, der Adam. Der Kirchgang liegt nun hinter ihnen. In allen Stuben sitzen die Gäste. Auf der grossen Diele sind Tische und Bänke aufgeschlagen. Es wird gespeist, gezecht, gesungen und gelacht. Der Schustertoni hat seine Trompete mitgebracht, der Schnefflerfranz seine Klarinette und der Bürstenkarl seine Fiedel. Da bleibt es nicht beim Gesang, die Jugend will tanzen, und die Alten wollen zeigen, dass sie sich noch nicht alt fühlen. Aber jetzt hat erst einmal der Maurerwendel das Wort. Stolz ist er darauf, des Xavers Bruder zu sein und auch vom Berghof abzustammen. Er ist voll des Lobes, wie vorbildlich Xaver und seine Moni wirtschaften und das Erbe der Väter verwalten. Reden kann er wie ein Buch! Von den Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern weiss er manche wackre Tat und manch schnurriges Stücklein zu berichten. Man hört ihn gern, aber wer ein Ohr dafür hat, merkt aus seinen Worten etwas Neid und verhaltenen Grimm heraus. Doch der Wendel ist viel zu klug, um es zu einem Bruch mit seinem reichen Bruder kommen zu lassen. Bei seinem grossen Durst, dem schlechten Geschäftsgang und lockeren Leben ist er immer in Geldverlegenheit. Da muss denn der Berghofbauer oft aushelfen. Angenehm ist solche Sache nicht, manche grob vorgebrachte Wahrheit muss der Wendel einstecken, ehe der Bauer in den Beutel langt, aber schliesslich tut er es ja doch. So eine wohltätige Quelle wird kein gescheiter Mann verstopfen, und der Maurerwendel zählt sich zu den Gescheiten.
Nun hat er seine Taufrede beendet. Den Adam liess schon die Tante Regina, der Moni Schwester, hoch leben. Nun ist es an ihm, auf das Wohl der Eltern des Neuangekommenen anstossen zu lassen, aber grosszügig, wie er nun einmal ist, schliesst er auch dessen Brüder, den Uhrmacherleo und den Andres, gleich mit ein. O, er ist ein guter Schauspieler. Mit welcher Unschuldsmiene er Erstaunen heucheln kann! Er stellt sich, als bemerke er erst jetzt, dass der Platz des Jüngeren leer ist.
Die Gäste werfen sich vielsagende Blicke zu.
Die Moni flüstert dem Xaver ins Ohr: „Ein boshafter Lump ist und bleibt der Wendel! Keinen roten Heller solltest du dem Tagedieb mehr geben; erntest doch nur Undank!“
Der Bauer beisst sich auf die Lippen und wirft dem Bruder einen finstren Blick zu. Der aber hält sein Glas in der Hand, leert es in einem Zug, und alle Anwesenden tun es ihm nach. Lachen, Lärmen und Musik setzen ein. Der kleine Zwischenfall ist vergessen — so scheint es wenigstens.
Bis zum Berggipfel hinauf tönt das Singen, Spielen und Jauchzen. Im Steinbruch, der sich tief wie eine gewaltige Höhle in den Wald hineingefressen hat, liegt hinter Felsstücken und Geröll versteckt ein junger Mensch von siebzehn Jahren. Er hält sich die Ohren zu, er will nichts von der Freude und Ausgelassenheit da unten hören. Zorn und Bitternis erfüllen seine Seele. Wie er den Neugeborenen hasst! Einen Dieb und Erbschleicher schilt er ihn in seiner blinden Wut. Eine Welt voll Hoffnungen und glänzenden Zukunftsträumen ist mit der Ankunft des kleinen Adam für ihn in Trümmer geschlagen worden.
Wie sicher sich der Andres seiner Sache fühlte! Wie er schon den „jungen Herrn“ herauskehrte! Ihm, dem Jüngsten, musste nach dem Gesetz der Schwarzwaldbauern ja in absehbarer Zeit der Hof zu eigen werden, sobald sich der Vater auf sein Altenteil zurückzog.
In seiner Einfalt war ihm nicht einmal bewusst geworden, warum ihn das Gesinde in den letzten Monaten mit spöttischen Augen ansah. Jetzt ist ihm die Binde von den Augen gerissen. Nun weiss er sich auch die Worte zu deuten, die die Kuhmagd dem alten Knecht Jockele zuflüsterte: „Der Andres wird sich noch schön wundern!“
O, alle hatten längst gewusst, was gespielt wurde!
Eine seltsame Müdigkeit übermannt ihn. Die Augen fallen ihm zu. Er mag nicht mehr grübeln, er will nichts mehr hören und sehen. Die Umwelt versinkt. Ein wohliges Gefühl beschleicht ihn. Es ist ein Zustand zwischen Wachen und Träumen.
Ringsum tauchen Gestalten auf, Menschen einer längst vergangenen Zeit. Vom Tal steigen sie herauf. Dicht an Andres schreiten sie vorüber, aber keiner scheint ihn zu bemerken. Dort, wo sonst Steinblöcke und Geröll lagen, ist jetzt ein Eingang in den Berg zu sehen. Ein langer, niedriger Gang führt tief in das Innere. Zu beiden Seiten zweigen sich andere Gänge ab. Sie sind dürftig von Fackeln beleuchtet. Weit hinten glänzt und glitzert es. Erz und Silber! Die Spitzhacke frisst sich in das Gestein, grosse Blöcke fallen zu Boden, werden auf Karren verladen und ins Freie befördert.
Viele Leute umgeben jetzt Andres, aber niemand nimmt von ihm Notiz. Altmodische, vornehme Röcke und Hüte tragen die Herren. Es wird gefeilscht und gehandelt. Viel Geld heimst der Bergwerksbesitzer ein.
Doch was ist das? Vom Tal herauf hallen Trompetengeschmetter und Trommelklang! Feuerschein färbt den Himmel blutigrot!
Wie Schatten zerrinnen die Gestalten.
In Asche und Staub sinken Städte, Dörfer, Kirchen und einsame Gehöfte. Es ist Krieg!
Die Gegend entvölkert sich. Wohin man sieht, liegen ermordete und am Wege verendete Menschen. Die Überlebenden flüchten in die Wälder, die ihnen Schutz und Unterkunft gewähren. Doch da schreitet die Pest über Höhen und Täler und ereilt die Flüchtenden.
Weithin ist fast alles Leben versiegt. Nur der Berghof blieb erhalten. Gottes schützende Hand war über ihm ausgebreitet. Die Mauer der Tannen verbarg ihn vor den gierigen Blicken der mordenden, plündernden und sengenden Landsknechtshaufen. Sein Pfad ist verwildert und mit Dornensträuchern, Buschwerk und jungen Bäumen bestanden. Der Eingang zum Bergwerk liegt längst verschüttet. Schwere Felsblöcke versperren ihn, Unterholz und Rankengewächs hängen wie eine Matte vor dem Gang, in dem Reichtümer aufgestapelt liegen, die nur darauf warten, von Menschenhand gehoben zu werden.
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