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Oben auf dem Hof des Meister Grieshaber kläfft Hektor, der struppige Köter, wie toll.
Der Meister und Leo gucken von der Arbeit auf. Es muss ein seltener Gast sein, sonst würde der Hund nicht anschlagen.
Der Andres ist’s! Nie mehr hat er seit jenen Tagen, wo er bleich und verstört mit Adam eintraf, einen Schritt über die Schwelle des Hauses getan.
Nun sitzen sich die Brüder auf Leos Zimmer gegenüber.
„Es ist schön von dir, dass du zu mir kommst, Andres!“
„Es hat seinen Grund, Abschied will ich nehmen.“
„Ich hörte es schon.“
„Ja, vom Wendel kann ich nichts mehr lernen.“
„Glaub’s dir! Die Vöhrenbacher halten grosse Stücke auf dich. Habe mich immer gefreut, von dir zu hören. Du weisst, Bruder, ich bin dir gut.“
„Wem bist du nicht gut, du Allerweltsfreund?“
„Wäre es nicht schön, wenn alle Menschen gut zueinander sein würden? Wenn einer dem anderen helfen wollte?“
„Hättest Pfarrer werden sollen.“
„Sag, Andres, hast du nicht etwas auf dem Herzen, das du mir anvertrauen möchtest?“
„Nimmst du auch die Beichte ab?“
„Behalt deinen Spott für dich! Ich denke, zwischen uns Brüdern sollte kein Geheimnis stehen, und wir sollten uns gegenseitig die Wege ebnen.“
„Verstehe schon, worauf du hinaus willst. Hab dir nichts anzuvertrauen. Mag jeder von mir glauben, was er will!“
„Ich möchte dich mit Vater und Mutter aussöhnen!“
Der spöttische Zug um Andres’ Mund verschwindet. Hart, wie aus Stein gemeisselt, erscheint in diesem Augenblick sein Gesicht. Er entgegnet: „Wie einem Aussätzigen hat man mir verboten, den Berghof zu betreten. Nicht einmal das Wort zur Verteidigung wurde mir gegönnt. An dem Tage, wo ich für Vater starb, starb er für mich. Ich habe keinen Vater mehr!“
Ganz leise wird die Tür geöffnet.
„Auch keine Mutter?“
Im Türrahmen steht Moni. Wie alt sie in den vier Jahren geworden ist! Ein schlichtes, graues Gewand trägt sie, das freudlos wirkt.
Um die Lippen des Sohnes zuckt es. Die starre Maske, die er krampfhaft zur Schau getragen hat, fällt.
„Mutter!“
All das Weh, aufgespeichert in den langen Jahren, bricht sich Bahn. Stolz und Hochmut verfliegen. Wild schluchzend liegt er der Mutter im Arm. Sanft streicht ihre Hand über sein Haar. Wie oft hat sie ihn, als er noch ein Bub war, so geliebkost und getröstet, wenn der Vater hart zu ihm gewesen ist.
„Hab’s ja gewusst, es ist alles nichts als dummes Gerede gewesen. Hab’ nie an deine Schuld geglaubt, Andres!“
Er löst sich aus ihren Armen. Was ist mit ihm? Ein anderer Mensch steht vor Moni! Ist das ihr Sohn? Ein fremder, kalter Zug breitet sich über sein Gesicht aus. In seinem Hirn formen sich seltsame Gedanken: Wer einmal im Leben der Versuchung zu erliegen drohte, ist ein Verfemter für alle Zeiten! Brennt mir das Kainszeichen noch nicht auf der Stirn? Habe ich nicht in tiefster Seele bereut? Nicht das grosse, gütige Verzeihen war es, das die Mutter hertrieb, sondern nur der Glaube an meine Unschuld.
Der alte Hass flammt in ihm auf.
Hohn und bitterste Enttäuschung sprechen aus seinen Worten: „Hast dich geirrt! Magst du’s wissen: ich war ein Lump! Ich fürchte sehr, dass ich es jetzt für alle Zeiten bleiben werde!“
Ehe einer es hindern kann, hat der Andres seine Mutter beiseite geschoben und ist die Treppe hinuntergestürzt. Er sieht nicht den Grieshaber und nicht die Vrenili, die sich von ihm verabschieden wollen. Er rennt davon, als verfolge ihn jemand. Hektor springt kläffend an ihm empor. Klingt das Bellen nicht wie: „Ein Lump bist du!“ Wütend tritt er nach dem Hund. Heulend, mit eingezogenem Schweif flüchtet das Tier.
Auf der Landstrasse angelangt, hat Andres sich wieder in der Gewalt. Er redet sich ein: an allem Elend ist der Adam schuld. Nicht nur um Haus und Hof hat er mich gebracht, sondern auch um die Liebe der Eltern! Eine alte Wunde, kaum vernarbt, wurde heute aufgerissen. Abgrundtief ist sein Hass gegen den Bruder! O, es wird schon einmal die Stunde der Vergeltung kommen!
Am anderen Morgen heisst es Abschied nehmen.
Ein über’s andere Mal versichert die Annili dem Andres, wenn er heimkehrt, soll es im Hause aussehen, als sei er nie fort gewesen. Und der Wendel schwört bei allen Heiligen, es bleibt nunmehr alles, wie es jetzt ist. Der „Vetter“ mög nicht so lange wegbleiben. Sein Zimmer stehe allzeit für ihn bereit und erwarte ihn.
Die Annili drückt dem Scheidenden die Hand, als wolle sie sie nimmer freigeben. Dicke Tränen rollen ihr über die rundlichen Wangen.
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Am Fusse des Stöcklewaldes, rings von weiten Forsten umgeben, befindet sich ein uraltes Höhenwirtshaus, „Die Fuchsfalle“ genannt. In der dunklen, verräucherten Wirtsstube sitzen sich der Lorenz Fehrenbach und Pauli Winterhalder gegenüber und um sie herum vier junge, armselig gekleidete Burschen. Auf dem Nachbartisch, in Augenweite, liegen grosse und kleine Uhren, eine sorgsam neben der anderen. Matthes, der Wirt, gesellt sich zu den Männern.
„Soll es jetzt also losgehen?“
„Freilich! Nun, wo der Frühling endlich eingezogen ist, hält’s uns nimmer.“
„Darf man fragen wohin, Pauli?“
Der Winterhalder leert seinen Schoppen. Dann antwortet er bedächtig: „Wollt’ erst nach Frankreich, und der Lorenz gar nach Spanien hinunter. Aber besser ist es schon, man bleibt weg, wo sich die Menschen gegenseitig die Köpf’ einschlagen.“
„Mag schon sein. Der Geist der Unruhe und Unzufriedenheit ist wie ein Stein, den man ins Wasser wirft. Immer weitere Kreise zieht er.“
„Freilich, Matthes, in den kleinsten Dörfern gibt’s heutzutage schon mehr als zu viel aufrührerische Geister!“ entgegnet Fehrenbach.
Der Wirt ereifert sich: „Was wollen sie denn, diese Weltverbesserer? Geht’s uns nicht gut? Können wir nicht zufrieden sein?“
Einer der jungen Burschen wendet sich zu seinen Kameraden und flüstert ihm ins Ohr: „Der Fuchs hat gut reden, ihm lausen ja mehr als genug in die Falle; wie steht’s aber mit unsereinem?“
Der Nachbar grinst und nickt verständnisinnig.
„Was habt Ihr da zu tuscheln? He? Spukt’s auch schon in euren blöden Schädeln von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ und wie all die Schlagworte heissen, mit denen heutzutage umhergeworfen wird? Sagt’s nur frisch heraus, ihr Strohköpfe! Könnt euch dann gleich wieder dahin scheren, woher ihr gekommen seit! Ersatz für euch liegt auf der Strassen!“ Der Fehrenbach hat sich in Zorn geredet und schlägt mit der Faust auf den Tisch.
„Hab’ dem Steffe ja nur ein Scherzwort gesagt.“
„So? Ein Scherzwort?“ höhnt der Uhrenträger. „Macht, dass Ihr hinaus kommt!“
Matthes legt dem erregten Mann die Hand auf die Schulter: „Lorenz, lass doch die beiden! Wird schon kein Staatsverbrechen gewesen sein. — Gelt, Karle und Steffe, hab ich nicht recht? Wir kennen uns doch! — Sei froh, Lorenz, so ordentliche, rechtschaffene junge Leute gefunden zu haben.“
„Also bleibt!“ knurrt der Fehrenbach. „Aber lasst euch nicht gelüsten, frech oder aufsässig zu werden, ich schreib eine gute Handschrift!“
Wieder ist es der Wirt, der helfend einspringt und die Spannung durch die Frage überbrückt: „Wohin soll es denn nun eigentlich gehen, Lorenz?“
„Über Polen nach Russland hinein. Hat schon mehr als einer sein Glück dort oben gemacht.“
„Bist ein gescheiter Kopf! Der Straube-Jockele und der Duffner-Sepp sind auch dort gewesen und als reiche Leut’ heimgekommen. Aber kalt ist’s da oben, bitterkalt!“
„Werd’ schon sorgen, dass die Buben sich warm arbeiten!“ brummelt der Lorenz.
Jetzt mischt sich der Winterhalder ins Gespräch: „Ja, der Jockele und der Sepp sind nicht dumm gewesen! Haben der Kaiserin eine schöne Uhr geschenkt, so ein rechtes Kunstwerk, auf der die zwölf Apostel die Stunden anschlugen. Hat sich gelohnt, die Sach’! Ein Freibrief wurde ihnen für alle russischen Länder ausgestellt, nicht einmal Abgaben brauchten sie zu zahlen! Wissen heut gar nicht, wohin mit all ihrem Reichtum!“
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