Ewald Förster rückte an einem Stuhle.
„Setze dich, Susanne, du wirst hungrig sein.“ Diese wehrte fast heftig ab.
„Ich habe gar keinen Hunger. Mir liegt jetzt nur daran, sobald wie möglich mein Kind zu sehen. Das ist für mich das Wichtigste auf der ganzen Welt. Und das müßt ihr doch begreifen. Meinetwegen mag Marlene weiterschlafen; aber sehen möchte ich sie wenigstens — und gleich sehen!“
„Könnte man nicht …“ begann Wanda Förster und warf ihren Mann einen bittenden Blick zu.
Er fiel ihr schroff ins Wort: „Wir dürfen keine Experimente machen, es wäre ein zu gewagtes Spiel.“ Er hüstelte.
„Setze dich, Susanne, beim Herumstehen kann man sich nicht richtig unterhalten.“
Die schlanke Frau mit dem schmalen, scharfzügigen Gesicht und den großen, braunen Augen ließ sich auf den für sie zurechtgerückten Stuhl nieder, fragte mit erregter Stimme: „Warum nennst du es ein Experiment, wenn ich mein Kind sehen möchte?“
Ewald Förster strich fast verlegen über das kurze, dunkle Bärtchen.
„Ich habe kein Talent zum Versteckspielen und zum Diplomaten, also kurz heraus, ich und auch Wanda halten es für das beste, wenn du Marlene weder heute noch in nächster Zeit wiedersiehst. Das Kind weiß gar nichts mehr von dir. Oder nur wenig. Ich hielt es für besser, Marlene zu erklären, du seiest weit fort gereist; denn die Wahrheit wäre doch fürchterlich für das kleine Ding gewesen. Bis jetzt hat noch niemand gewagt, ihr von dir zu reden, und ich dachte daran, sie jetzt für ein paar Jahre in ein Pensionat zu tun, damit die Gefahr, sie könnte etwas von dem Schrecklichen erfahren, wenigstens zunächst beseitigt wird, bis sie erwachsen ist. Deine Vergangenheit bedeutet eine Gefahr für Marlene. Darüber wollte ich mit dir sprechen. Du tätest Marlene den größten Gefallen, bewiesest ihr deine Mutterliebe am besten, wenn du vielleicht ins Ausland übersiedeln würdest.“
Susanne würgte ein furchtbarer Schrei in der Kehle.
„Du bist wahnsinnig, Ewald, du verlangst Unmögliches von mir! Wenn ich aber ins Ausland ginge, würde ich Marlene mit mir nehmen. Das Kind gehört an die Seite seiner Mutter.“
Der Mann sagte hart: „An die Seite einer Mutter, die aus dem Zuchthaus entlassen worden ist!“
Susanne Bergener warf trotzig den Kopf zurück, das kurze, rotbraune Haar glänzte wie poliertes Kupfer.
„Du weißt doch genau, ich bin unschuldig!“
Niemand antwortete ihr.
Sie preßte die Handflächen fest gegeneinander.
„Warum glaubt ihr mir denn nicht? Und wie kann ich Glauben von Fremden verlangen, wenn ihr meine Beteuerung anzweifelt?“ Sie preßte mit heißem Atem hervor: „Ich bin wahrhaftig unschuldig! Als ich vor meinem Manne stand, als ich ihm erklärte, auf diese Weise wie bisher könnten wir nicht weiterleben, drängte sich ein unbekannter Herr an mir vorbei, stieß mich mit harter Faust zurück und schoß. Den Revolver warf er an die Erde, dorthin, wo ihn die Polizei fand. Er schoß, der Fremde, nicht ich.“
Frau Wanda begann leise zu weinen. Ewald Förster aber zog die Brauen hoch.
„Es klingt zu gesucht, Susanne, an das Märchen hat niemand geglaubt. Weder die Richter noch sonstwer. Deshalb hat man deine Berufung verworfen.“
Susanne Bergeners Augen wurden dunkler.
„Auch ihr glaubt mir nicht, noch immer nicht?“
Wanda Förster antwortete nicht, sie wich dem angstvoll fragenden Blick der Schwester aus, ihr Mann aber antwortete ohne Zögern: „Nein, Susanne, wir glauben dir nicht und können dir nicht gauben. Das einzige, was wir dir glauben, ist, daß du, als du die Waffe gegen Urban erhoben, vollständig unzurechnungsfähig warst und eigentlich, statt ins Zuchthaus, ins Irrenhaus hättest gebracht werden müssen.“ Er seufzte. „Tausendmal besser wäre das gewesen. Für dich und für uns alle! Auch besser für Marlene! Eine Mutter, die ihr im Wahnsinn den Vater tötet, für die könnte und müßte sie später Verzeihung haben. Wärest du heute aus der Irrenanstalt als geheilt entlassen worden, würde ich Marlene auf deinen Wunsch vorhin sofort geweckt haben. Ich hätte dich auch offen vor aller Welt ins Haus gebraucht. Allgemeines Bedauern wäre das einzige gewesen, was man für dich gehabt hätte. Du wärest bemitleidet worden von allen, die dich kennen, und hättest in unserer Stadt mit Marlene ruhig und friedlich leben können. Jeder Mensch würde fernerhin nur „Mitleid und Wohlwoen für dich haben, aber“, seine Stimme wurde nicht lauter, doch schärfer sprang jedes Wort in das gemarterte Ohr der blassen Frau, „aber leider bot dir nicht die Irrenanstalt sechs Jahre lang Asyl. Der Aufenthalt dort würde dich zur Märtyrerin mit einem kleinen, interessanten Stich ins Mondäne gestempelt haben; doch die sechs Jahre im Zuchthaus machen dich zur ….“
Er brach ab, und über sein ein wenig eckiges Gesicht zuckte es, die Muskeln um seinen Mund waren voll Unruhe.
Susannes Augen blitzten ihn an.
„Habe nun auch noch den Mut, das Wort auszusprechen, das ich noch brauche, um meine Lage klar und nüchtern von deinem Standpunkt und dem der großen Menge aus zu betrachten. Mir fängt schon an aufzudämmern, ich habe bisher alles zu einseitig angesehen.“
Er straffte sich unwillkürlich ein wenig höher, öffnete die Lippen; doch seine Frau sprang auf ihn zu, legte ihre Rechte auf seinen Mund.
„Schweige, Ewald! Sie hat schon zuviel durchgemacht, und man muß ihr Zeit lassen, sich zu erholen, zu besinnen. Bedenke, sie ist meine Schwester.“
Er schob die Hand fort.
„Wenn ich das nicht bedächte, ginge uns die ganze Geschichte ja überhaupt nichts an. Misch dich nicht ein. Susanne ist kein Püppchen, die nichts vertragen kann.“
Susanne von Bergener rief fast schroff: „Du hältst uns nur auf, Wanda. Ich bitte dich, laß Ewald den Satz von vorhin aussprechen. Ich brauche das Wort, das er hinunterschluckte. Ich will, nein, ich verlange es zu hören.“
Wanda Förster trat beiseite und drückte ihr Taschentuch vor die Augen.
Ihr Mann richtete seinen Blick auf die blasse Frau, deren Hände sich ineinander verkrampften wie in gehässigem Kampf, und er vollendete langsam, jede Silbe leicht unterstreichend, den Satz von vorhin: „Doch die sechs Jahre im Zuchthause machen dich zur Verfemten!“
Wanda Förster schluchzte jetzt laut, Susannes schlanker Körper aber war emporgeschnellt, und zitternd vor Erregung, stand sie vor dem großen, breitschulterigen Manne.
„Ich habe dich zwar um das Wort gebeten, aber du hättest es mir doch vorenthalten müssen, wenn du noch einen Funken von Gefühl im Leibe hast“, fuhr sie ihn an. „Du bist hart und nüchtern, Wanda hast du geknebelt mit deiner Härte und Nüchternheit, deine ganze Umgebung hast du nach deinem Bilde umgeformt. Du bist ein Selbstsüchtling, ein Streber, aber Empfinden und Mitempfinden kennst du nicht.“
Er schüttelte den Kopf.
„Ich bin nicht empfindungslos, Susanne, und am wenigstens ungerechtem Urteil gegenüber. Hart bin ich nicht, vielleicht nüchtern und objektiv. Ich wiederhole dir, du bist in den Augen deiner alten Umgebung jetzt eine Verfemte. Versuche es lieber nicht, hier zu wohnen! Kein Mensch unserer Stadt wird noch mit dir verkehren, deine Freundinnen von früher würden, wenn du an ihnen vorüber gehst, den Kopf abwenden, die Herren, die der hübschen, interessanten Frau des ein wenig willkürlich und leichtsinnig lebenden Bildhauers Bergener wie toll den Hof gemacht, würden nicht einmal mehr an die Hutkrempe fassen bei deinem Anblick. Selbst die, denen du noch gefällst, die ein heimlicher Flirt noch reizen könnte, die das ‚Zuchthaus‘ nicht stört, werden dir ausweichen, weil ihnen vor dir grauen müßte. Was Urban von Bergener geschah, könnte auch ihnen geschehen. Die leidenschaftliche Hand, die einmal den Revolver erhoben, könnte ihn zum zweiten Male erheben.“ Seine Stimme ward ein wenig weicher. „Marlene würde an deiner Seite als Tochter einer Verfemten heranwachsen. Sie würde bald merken, daß du in der Stadt eine Ausnahmestellung einnimmst. Nicht nur du, sondern auch sie. Denn du könntest sie nicht davor bewahren, daß sie allzu früh die volle Wahrheit auf vielleicht grausame und rücksichtslose Weise erfährt. Sie hat Mitschülerinnen, auch die Dientsboten bedeuten eine Gefahr. Marlene wird von den Mitschülerinnen gemieden werden, sie wird darunter leiden und, was das Gefährlichste ist, wird vielleicht anfangen, ihre Mutter zu hassen. Sie wird vor der Hand zurückscheuen, an der das Blut des Vaters klebt.“
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