Anny von Panhuys
Frauenroman
Saga
Wirren um Liebe Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1953, 2020 Anny von Panhuys und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726629460
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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Regina Ißberg erwachte zu früherer Morgenstunde als sonst. Ihr war es, als hätte irgendein lautes Geräusch sie aus dem Schlaf gerissen.
Sie setzte sich im Bett auf und lauschte angespannt hinaus. Und nun hörte sie ganz deutlich etwas, das einem plumpen Fall glich.
Sie befand sich allein in der Wohnung. Die Eltern waren für ein paar Tage nach Klein-Demsdorf zu Verwandten gefahren; sie wollten erst heute nacht zurückkehren, und die Aufwärterin pflegte morgens nie vor sieben Uhr zu kommen. Eben schlug die Standuhr im Wohnzimmer die fünfte Stunde. Doch es war Juni und draußen längst völlig hell.
Durch die nicht fest geschlossenen Läden schoben sich hellgoldene Stäbe, die nicht greifbar und doch fest umrissen waren. Frau Sonne hatte ausgesandt.
Regina Ißberg war kein feiges Mädel, und møt dem Wort „Furcht“ stand sie nicht auf de und du Mit ihren zwanzig Jahren wußte sie, was Sport bedeutete. Im Rudern, Fechten, Turnen, Schwimmen und sogar im Boxen war sie geübt, und ihr schlanker, doch kräftiger und gesunder Körper hätte sich keine kleinliche Schwäche verziehen.
Also aus dem Bett heraus und die Läden aufgestoßen!
Das Licht der hellen, frohen Morgensonne drang jetzt mit aller Macht ein. Regina warf den Bademantel über den blauweißen Schlafanzug, und während sie mit der Rechten glättend über das einfach gescheitelte Haar fuhr, trat sie auf die Diele hinaus.
Von jenseits der Korridortür vernahm sie ganz eigentümliche Laute, die sie nicht recht unterbringen konnte. War es Stöhnen, Grunzen oder gar Schnarchen? Es klang häßlich und mißtönend.
Regina zog nachdenklich die schmalen goldbraunen Haarbögen hoch, die sich wie kleine Brücken über die hellgrauen Augen spannten, und legte ein Ohr an die Spalte der Tür, die nach dem Flur hinausführte. Die befremdenden Laute schienen sich jetzt in ein Stöhnen verwandelt zu haben.
Jedenfalls hielt Regina für nötig, sofort die Flurtür zu öffnen und sich zu überzeugen, was eigentlich in aller Herrgottsfrühe in dem sonst so ruhigen Westendhause los war, in dem es nur drei Wohnungen gab. Im Erdgeschoß wohnte Chemiker Doktor Ißberg, ihr Vater, dem das Haus gehörte, im ersten Stock Frau Lindner, die Witwe eines Arztes, mit ihrem jüngsten Sohn, dem Ingenieur, und den zweiten Stock hatten Gerhards mit ihrer halberwachsenen Tochter inne. Der Mann war ein gutgestellter Versicherungsagent.
Vielleicht war einem der Mieter ein Unfall zugestoßen?
Der Schlüssel drehte sich herum; die Sicherheitskette klirrte leicht, als sie entfernt wurde. Regina drückte die Klinke nieder und erschrak vor dem, was sie sah.
Dicht vor ihrer Flurtür, mit dem Kopf auf der untersten Treppenstufe, lag Dieter Lindner vor ihr, der Student aus dem ersten Stock. Der Hausflur war völlig hell, und in der scharfen Beleuchtung der Morgenfrühe sah das regelmäßige Gesicht des jungen Menschen seltsam fahl und schlaff aus. Seine Hautfarbe spielte ins Graue hinüber.
Unschlüssig, was sie tun sollte, verharrte Regina Ißberg abwartend, als glaube sie, der regungslos Daliegende müsse in der nächsten Sekunde die Augen aufschlagen und ihr erklären, was eigentlich los wäre. Aber er regte sich nicht. Die sonderbaren Töne setzten wieder ein und entpuppten sich als Schnarchen. Auch machte sich ein Geruch von Alkohol deutlich bemerkbar, und Regina begriff mit einemmal, um was es sich hier handelte — um keinen Unfall, sondern um einen Menschen, der zuviel getrunken hatte und einfach umgefallen war vor lauter Alkohol und jetzt vor ihrer Tür lag, ohne eine Ahnung davon zu haben, wo er sich befand.
Pfui Teufel! drängte es sich unwillkürlich über Reginas Lippen. Sie bückte sich und schüttelte den Schlafenden derb an der Schulter. Der schien nichts zu fühlen; er bewegte sich gar nicht, nur das laute Schnarchen ließ vorübergehend nach.
In Reginas Kopf ballten sich die Gedanken wirr zusammen und wurden zu einem Schmerz, den sie spürte — bis dort, wo das kleine pochende Etwas saß, das man Herz nannte.
Dieter Lindner, dem sie sich heimlich zugeneigt, dessen Gruß sie immer wie eine Liebkosung berührt hatte, lag betrunken vor ihr, war so jählings umgerissen worden vom Alkoholteufel, daß ihm nicht mehr Zeit genug geblieben war, an seine Menschenwürde zu denken.
Die Tränen traten ihr in die Augen und ließen für die Dauer von Sekunden alles um sie herum verschwinden, den stillen Hausflur mit den etwas plump gemalten Landschaften an den Wänden, die Treppe und den Mann, der sich so hart gebettet, weil die Treppe, die er vordem oft mit ein paar Sprüngen genommen hatte, heute ein unüberwindliches Hindernis für ihn gewesen war.
Regina schrak zusammen. War nicht eben ganz oben im Hause eine Tür gegangen? Vielleicht würde nun gleich Herr Gerhards die Treppe herunterkommen, der irgendeinen Frühzug benutzen wollte. Heiße Scham überflutete sie bei dem Gedanken, es könne außer ihr noch jemand Dieter Lindner in dem häßlichen Zustand vollständiger Trunkenheit sehen. Auch an seine Mutter dachte sie, die gute liebe Frau, die so stolz auf ihren Jüngsten war. Ihre anderen Kinder waren verheiratet, und sie hatte einmal gesagt, wie sich Regina erinnerte: Wenn mein Dieter heiratet, muß es eine ganz Besondere sein. Er ist so ein Prachtmensch! Und da lag der „Prachtmensch“, sah grau und alt aus und schlief seinen Bombenrausch auf dem Hausflur aus, hatte sich als Kopfkissen die unterste Treppenstufe gewählt.
Regina hatte noch den Nachhall einer im zweiten Stock einschnappenden Tür im Ohr, und alles, was sie dachte, schloß sich so rasend schnell dem an, daß sie schon einen Entschluß faßte, ehe sie von oben noch einen Schritt vernahm. Sie wollte nicht, daß jemand Dieter Lindner in seinem jetzigen Zustand sähe. Es war genug, daß für sie ein Ideal ins Wanken geraten war. Niemand durfte über Dieter Lindner lachen oder spotten. Das Recht dazu mochte sie keinem zugestehen. Sie wußte auch sofort, was sie tun mußte, um es zu verhüten.
Sie hielt sich nicht eine einzige Sekunde mehr mit Überlegen auf, sondern tat, was ihr geboten erschien.
Regina Ißberg war kräftig, aber Dieter Lindner konnte sie natürlich nicht tragen. Sie könnte ihn nur hineinziehen in die Wohnung, ruckweise, Zentimeter um Zentimeter, das müßte gehen, wenn sie sich anstrengte.
Sie bückte sich, packte den vor ihr Liegenden unter den Armen und schleifte ihn, der nur ein paar unverständliche Laute von sich gab, mit kurzen Rucken, wie einen schweren Koffer, hinein in die Diele. Dann holte sie den Hut, der neben Dieter Lindner gelegen hatte, und drückte die Wohnungstür leise ins Schloß. Ihr Herz pochte heftig infolge des Kraftaufwandes, aber ihr Vorhaben war gelungen, Dieter Lindner würde keinem anderen Hausbewohner mehr das häßliche Schauspiel bieten, das er ihr geboten hatte, und darauf allein kam es an.
Sie reckte sich; der Rücken schmerzte ihr, aber was machte das schon?
Sie wandte sich von der Tür ab und blickte gerade hinein in Dieter Lindners weitaufgesperrte Augen, diese Augen, die ihr immer so besonders gefallen in ihrem tiefen satten Blau. Jetzt blickten sie etwas stier; aber selbst da blieben sie schön.
Dieter Lindner saß jetzt auf dem Fußboden, und sein Gesichtsausdruck war unbeschreiblich. Er starrte Regina unverwandt an und mühte sich krampfhaft, herauszufinden, wo er sich befand und wie Regina Ißberg zu ihm gekommen sein könnte. Ein Büschel seiner blonden Haare hing ihm strähnig in die Stirn.
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