Anny von Panhuys
Wenn das nicht geschehen wäre
Originalroman
Saga
Wenn das nicht geschehen wäre
© 1950 Anny von Panhuys
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711592304
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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O du kleines, stilles Ackerstädtchen! Ist es nicht, als hättest du den Frieden gepachtet für alle Zeiten? Doch an Markttagen merkt man, du liebst auch das laute Leben. Dann lockst du die Menschen an, die ringsum auf kleinen Gehöften, auf gediegenen Erbhöfen und grossen Gütern wohnen. Sie kommen dich besuchen, und du hältst dann selbstbewusst und ganz von deiner Wichtigkeit durchdrungen Hof. O du kleines, sonst stilles Ackerstädtchen, du bist auch an solchen lauten Tagen reizvoll, wenn Autos und Pferdewagen aller Art — vom altmodischsten Vehikel bis zur sanft federnden Equipage, auf die Grossmama noch mächtig stolz gewesen — durch deine Strassen fahren.
Die Klosterkirche, der alte, noch immer kraftvolle Bau aus frühem Mittelalter, steht feierlich backsteingotisch, als riesiger Hintergrund vor dem Markttreiben, und die Landleute kaufen und verkaufen, sie wandern durch die Strassen und treten in die Läden ein. Markttag ist der grosse Tag der Besorgungen. Und Jahrmarkt ist der allerwichtigste Tag der Besorgungen und zugleich Vergnügungen. Da gibt’s allerlei Spass auf dem Rummel, und die Börse sitzt allen etwas lockerer in der Tasche als sonst.
Herbstjahrmarkt! Vom Rummel dudelte die Karusselmusik, und ab und zu wehten abgerissene Tonfetzen in ein Haus am Wall. Es war ein einstöckiges, älteres, aber sehr solide gebautes Haus mit einem Laden, zu dem eine Stufe hinaufführte. In einem grossen, geschmackvoll zurechtgemachten Schaufenster sah man Funkgeräte, Lautsprecher und Lampen. Über der Tür stand:
Paul Harnisch
Ingenieur und Elektromeister
Installation und Radio
Kraftanlagen und Ankerwicklung
Das Geschäft war heute sehr besucht. Paul Harnisch hatte alle Hände voll zu tun. Seine Mutter und Elisabeth Römer, seine Schreibhilfe und seit kurzem seine Verlobte, unterstützen ihn beim Verkauf. Radio war längst kein Vorrecht mehr für einzelne. Jeder, auch der kleinste Kossäte, wollte darüber unterrichtet werden, was in Deutschland und in der Welt vorging, und bei Paul Harnisch kaufte man gut, wurde fachmännisch von ihm beraten. Als es zu dunkeln begann, wurde der Laden leer und es war, als ob mit den letzten Kunden auch die Spannkraft der drei, die den ganzen Tag über so eifrig bedient hatten, verschwunden wäre.
Paul Harnisch war gross und schlank, doch dabei breitschultrig. Sein Haar war hellbraun und lag sehr straff zurückgekämmt über einem Gesicht, dessen scharfer Schnitt durch die dunklen Brauen noch stärker betont wurde. Hellgraue Augen hatte er und die Linien seines Mundes waren ein wenig weich geschwungen.
Er verliess zuerst den Laden, und seine Mutter, die ihm sofort folgte, fand ihn in der Wohnstube am offenen Fenster.
Sie schalt gutmütig:
„Wir haben Anfang Oktober, Paul, und es ist gegen Abend draussen schon kühl, da sollte man ein warmes Zimmer eigentlich zu schätzen wissen.“
Er schloss das Fenster, das er eben geöffnet hatte, sehr geräuschvoll. So wie jemand, der inneren Zorn, den er mühsam verbeissen muss, an einem Gegenstand auslässt.
Frau Harnisch war mittelgross und mollig. Ihr Haar lag in graublonden Zöpfen um den Kopf. Sie hatte seit den Mädchentagen ihre Frisur niemals geändert. Nun zupfte sie den Sohn am Rockausschlag.
„Jungchen, Jungchen, das kann und darf nicht so weitergehen mit dir. Den ganzen Tag und mindestens noch die halbe Nacht quälst du dich mit der unglückseligen Geschichte herum.“ Sie sah zu ihm auf. „Da stehst du vor mir, guckst ’runter auf mich, und ich muss dir immer wieder zureden, wie ’nem Hosenmatz.“ Sie drückte ihn auf einen Stuhl. „Ich finde, wenn man von unten nach oben ’rauf reden muss, geht dabei eine Menge von der Autorität verloren! Und die brauche ich, wenn ich dich zur Vernunft bringen will. Das muss ich aber, denn ich mag’s nicht mehr mit ansehen, wie du dich kaputt machst — und Elisabeth sieht auch schon ganz trübselig aus.“ Sie legte ihm beide Hände auf die Schultern. „Wir haben Pech gehabt, Paul, aber uns selbst ist wenigstens nichts geschehen. Wir sind gesund, und mit dem Pech müssen wir fertig werden. Ich predige dir das immer wieder und hoffe, du bringst endlich die Kraft auf, dich aus dem ewigen Drandenken herauszureissen. Die Kundschaft ist dir doch nicht weggelaufen, und das ist schliesslich das Allerwichtigste.“
Er lachte kurz auf. Es klang bitter.
„Ach, Mutter, du meinst es ja gut mit mir und ich erkenne das gewiss an. Ich bin dir auch dankbar für jedes liebe Wort, aber so einfach, wie sich das mit dem, was die Kundschaft betrifft, anhört, ist es leider nicht.“ Er presste zwischen den Zähnen hervor: „Verdammt schwer ist es sogar. Natürlich, Funkgeräte sind genügend da, und ich kann auch jederzeit nachbestellen. Aber die Werkstatt ist zum Teufel, und ein paar der Arbeiter sind zunächst brotlos geworden durch meinen sträflichen Leichtsinn. Alles Material ist verbrannt, und die Feuerversicherung kann mir nicht helfen, ich trage allzu klar die Schuld an dem Unglück. Das weiss ich natürlich und habe es auch sofort erklärt —“
„Ja, so überklug bist du gewesen!“ kam es von der Tür her. Elisabeth Römer stand dort, und die sehr hohe Stimme, die einem Kinde anzugehören schien, kippte vor Erregung über.
„Du brauchst ihm das, was Paul selbst am besten weiss, nicht immer noch von neuem zu bestätigen, Elisabeth. Du hilfst ihm dadurch bestimmt nicht.“ Frau Harnisch sagte es verweisend.
Elisabeth trat langsam näher. Sie hatte einen eigentümlichen Gang. Sie wippte beim Gehen abwechselnd immer ein wenig nach rechts und nach links. ‚Schmetterlingsgang’ nannte es Paul in zärtlichen Augenblicken. Elisabeth fand die Bezeichnung verdreht, aber sie behielt das für sich. Sie wandte sich an Frau Harnisch:
„Ach, Schwiegermutter, du tust, als ob Paul ein armer Pechvogel wäre, den man nur bedauern müsste oder mit Trostworten füttern. Ich denke etwas anders darüber. Schuld hat er nun mal an dem Unglück, aber es hat nicht bloss ihn getroffen. Dich und mich auch. Mich nicht mal zu knapp. Mit dem Heiraten im Januar ist’s doch nun wahrscheinlich Essig geworden, und es war vorher alles so schön und glatt in Ordnung.“
Ein paar Tränen drängten sich aus ihren hellbraunen Augen, die nicht besonders gross waren, aber jenen eigenen, sanften Ausdruck hatten, weshalb man sie allgemein mit ‚Rehaugen’ bezeichnet. Rehaugen bei Menschen sind nicht immer der Spiegel der Seele. Aber wer das nicht am eigenen Leibe erfahren hat, glaubt es nicht.
Elisabeths Gesicht war klein und sehr ebenmässig, das Haar dunkelbraun und gelockt. Sie war sehr stolz darauf, dass ihr die Natur Dauerwellen geschenkt hatte. Und noch einen Vorzug besass die kleine, zierliche Elisabeth Römer. Ihr Lächeln war von ganz besonderem Reiz. Sie verzog nur ein klein wenig den Mund, und dann bildeten sich sofort zwei tiefe Grübchen in den Wangen.
Diese Grübchen hatten es dem grossen, breitschultrigen Paul Harnisch sehr bald angetan.
„In die Grübchen habe ich mich vergafft. Mutter,“ hatte er gesagt, als er ihr erklärte, er liebe Elisabeth Römer und würde sie heiraten, auch wenn sie kein einziges Stückchen Wäsche mit in die Ehe brächte. Frau Harnisch hatte darauf erwidert: Viel brächte Elisabeth Römer auch kaum mit, denn was sie verdiene, gehe für neue Kleider und hochhackige Schuhe drauf! Er dagegen lachte: „Ein junges hübsches Mädel muss eitel sein. Ich liebe Elisabeth gerade so, wie sie ist!“ Frau Harnisch hörte aus jedem Wort heraus, dass es keinen Zweck mehr hatte, dem Sohn abzuraten, wie sie es gern getan hätte. Sie würde dabei nur einen Teil seiner Liebe und seines Vertrauens aufs Spiel setzen, und so antwortete sie denn: „Du bist neunundzwanzig Jahre, also alt genug, dir deine Lebensgefährtin selbst zu wählen. Ich habe keine besonderen Gründe, dass du Elisabeth nicht nehmen sollst.“
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