Plötzlich sagt sie düster und geheimnisvoll: „Thorbjörg, er starb — und er starb ganz gewiß Ihretwegen. Sie haben ihn ganz und gar gewonnen ... Als Sie von ihm gingen, konnte er nicht länger leben. Er hing dort in den Felsen nur handbreit über dem sicheren Boden! Und wenn es seine Absicht gewesen wäre, hätte er sich selber leicht befreien können. Aber begreifen Sie, er wollte nicht ... Und das alles sieht ihm doch so ähnlich ...“
Es tut Jofrid sehr weh, das zu sagen; aber sie kann es unmöglich verschweigen. Thorbjörg, das Mädchen der Straße, läßt den Kopf langsam sinken. Kein Wort, kein Laut. Thorbjörg bleibt in Frau Dagmars großem Stuhl versunken, gerichtet und vernichtet, und rührt sich nicht mehr.
„Hat er Ihnen nie von mir erzählt?“ fragt die junge Hausfrau von Lisät sachte. „Hat er Ihnen nie von Jofrid erzählt?“
Thorbjörg schüttelt stumm den Kopf mit dem Hut und mit allen Blumen und allem bunten Bändergeflatter.
Langsam erhebt sich Jofrid. „Wollen Sie nicht den Hut ablegen? Wie? Und er hat Ihnen also niemals gesagt, was er in seiner Jugend trieb? Ach, nein — auch das sieht ihm ähnlich ... Er reist fort von diesem Strande und schweigt. Und keine Macht der Welt vermag ihn wieder zurückzubringen ... Aber er wuchs trotz allem hier auf, müssen Sie wissen. Wir liefen beide als Kinder miteinander in diesen Bergen umher ... Und er war so manchesmal rein unmöglich — sonderbar, fast verrückt. Wir wanderten in die hellen Sommernächte hinaus ... Ja, wir zogen so oft miteinander in die Wildmark hinaus! Wir hielten uns bei den Händen wie Kinder ... Was sage ich? Kinder? — Wir waren doch noch Kinder! Oh, wie packte es mich doch, wenn er plötzlich stillstand und seine verwunderlichen Worte sagte! Er sagte: ‚Siehst du diesen Stein? Ein Stein auf der Ödmark. Ja, aber er hat ein Gesicht; er hat ein Gesicht mit Bart und Augen — siehst du es denn nicht? Es ist nur ein Stein; aber er meint es gut mit uns ... Und in diesem Busch dort lebt ein Märchen ...‘ Ach, Olav war stets so ganz anders als alle ... Er sah überall ferne und verborgene Dinge. Er hörte Stimmen im Wind. Er sah Schatten in der Nacht ... Wenn er neben mir im Heidekraut lag und leise erzählte, war seine Stimme wie eine Orgel ... Großer Gott — was rede ich nur! Man kann das ja gar nicht sagen ... Trotzdem ... Nein, Sie werden dies alles wahrscheinlich gar nicht verstehen ... Einmal wälzte er einen großen Stein den Abhang von Nora hinunter. Der Stein blieb vor der Haustür einer alten Witwe liegen, Siri, sie war sechzig Jahre alt und ganz weiß. Und dann ging er hin und wollte sie heiraten, nur aus Reue. Er war damals siebzehn Jahre alt ... Aber in einer Johannisnacht verbrannte er einen alten Wacholderbaum, den die Leute Priester nannten. Er verbrannte ihn meinetwegen ... Ach, wie vieles an ihm war unglaublich und völlig rätselhaft ... Jetzt sitje ich hier, und es fällt mir wieder ein. Und Sie brauchen ja gar nicht auf mich zu hören. Oh, schweigen Sie nur! ... Aber ich ...! Ja, und dann zog er fort. Auf einmal fährt er in die Welt hinaus und wird Seemann und alles, und gibt niemals Nachricht von sich. Und so nahm ich Trygve und kam nach Lisät. Dann kehrte er wieder zurück ... Dort im Stuhl saß er ... Aber, Liebe, grämen Sie sich nicht so! Nein, weinen Sie nicht ... Oh, ich hätte Ihnen dies alles gar nicht sagen dürfen. Aber es ist so sonderbar — er kam ja von Ihnen hierher — zu mir — an diesen Strand ...“
Und die Hausfrau starrt immerfort auf das fremde Mädchen und redet schnell und närrisch, redet wirre Worte und stammelt kleine Geheimnisse, die in ihrer Seele brennen, die sie unmöglich länger zurückhalten kann.
„Ja, ganz gewiß, er war auf seine Art ein Künstler und ein Dichter und stets ein wenig unheimlich. Einen ganzen Sommer lang schwärmte er von fremden Ländern, von Landstraßen ohne Ende und nächtlichen Wäldern mit kleinen Feuern, er schwärmte von Meer und Felsen und Rasten an grauen Regentagen ... Denken Sie nur, er wollte damals eine Drehorgel kaufen und mit mir hinausziehen. Wir waren ja nur Kinder. Aber ich kann es niemals vergessen! — Es war zugleich auch soviel Ernst dabei. Und ich wurde immer traurig seinetwegen ... Heute steht das alles wieder so lebend vor mir ... Aber da rede ich und rede, und Sie müssen doch müde sein. Reisten Sie denn nicht die ganze Nacht lang? Und wie ist das nun? Haben Sie ein Heim in der Stadt? Haben Sie noch Ihre Eltern?“
Jofrids Seele sprudelt — hastige, heiße, heftige Worte; ein Bergbach von Erinnerungen. So hat Jofrid sich in ihrem ganzen Leben nur einem einzigen Menschen offenbaren können ...
Ohne Zweifel, der Geist Olavs schwebt über ihr.
„Was wollen Sie nun beginnen?“ fragt sie atemlos.
Thorbjörg hebt den Kopf. „Wie? — Was soll ich denn beginnen ...? Ich gehe vielleicht mit seinem Kind.“
„Guter Gott!“ schreit Jofrid auf. „Was sagen Sie da?“
„Ja. Ich weiß nicht ... Vielleicht ist es auch nicht so. Ich habe es schon früher einmal geglaubt und mich geängstet. Aber es war dann doch nichts ...“
„Sie ängsteten sich?“ murmelt Jofrid. Die zehn Finger ihrer beiden Hände werden zu einem unlösbaren Knäuel. „Ach, fürchten Sie sich nur nicht! Wir hier bleiben seine Freunde zu jeder Zeit. Wir werden auch für sein Kind sorgen ... Heute will ich noch mit Trygve darüber reden. Trygve hat seinen Hof gekauft, den Hof Arvenik. Und nun sind gar keine Erben da ... Aber wenn Sie einen Sohn von Olav bekommen, so soll er den Hof von Arnevik wieder zurückerhalten, so wahr ich hier vor Ihnen sitze ...“
Bei dem Gedanken an Olavs Kind wird Jofrid ganz erregt und glühend. So ist Jofrid — frohgemut ist sie und ehrlich und groß und durchaus nicht engherzig. Jofrid — eine wahre Seltenheit in ihrer Art.
Nur gegen ihren Ehemann Trygve Eivindson kann Jofrid sich mitunter befremdend und fast feindselig verhalten. Es liegt das ganz gewiß nicht in ihrer Absicht, und es kann nicht ihre Schuld sein. Es gelingt ihr nur nicht immer, ihr junges, starkes Blut im richtigen Kurs zu steuern.
Der Ehemann Trygve geht indessen auf seinem Hofe umher und ist mißvergnügt mit dieser neuen Wendung und der ganzen Entwicklung auf Lisät. Ja, Trygve geht umher, betrachtet den frostblauen Himmel über sich und fragt: „Was soll nun das bedeuten? Was will dieses fremde Weib von uns? Ist es denn nicht schon mehr als genug, wenn es Olav verdorben und sein Leben gekürzt hat? Nein, zum Teufel, frage ich, was geht uns denn dieses Weib an ...“
In der Stube von Lisät sitzt zu dieser Zeit immer noch Jofrid und hält Thorbjörgs Hände und sagt tröstliche Worte. Jofrid neigt sich herab zu diesem fremden Weibe, das sie doch von allen Weibern der Welt am meisten hassen müßte. Es ist nur Güte in Jofrid. Und sie tut dieses alles wohl um Olavs willen. So groß und frei ist Jofrid.
Darum muß Trygve allein umhergehen mit seinen Fragen und allen seinen dumpfen Gedanken... Ja, wahrlich, Trygve wurde von einem losen Mädchen aus seiner eigenen Stube verdrängt und zur Seite geschoben. Er wurde von der Seite Jofrids verdrängt, gerade in der Zeit, da Jofrid sich ihm weich und fromm erzeigte.
Abermals ereignet sich etwas Seltsames: Ein Mann beginnt mit einem Schatten zu ringen. Ein Mann beginnt ganz ernsthaft und angstvoll zu ringen, als gelte es Leben und Seligkeit. Trygve, dieser einfache, biedere Landmann, der in der Einsamkeit von Lisät heranwuchs, behütet von einem alten Knecht, Trygve, der bis dahin nicht viel kannte, von den Geheimnissen des Daseins mit seinen Leidenschaften, Trygve gerät in ein heftiges Zerwürfnis mit sich und seinem Schicksal ...
Er hatte sich eines Nachts in der Berghütte mit Olav über manches ausgesprochen. Wenn es irgend etwas zu verzeihen gegeben, so ward es Olav, dem Lebenden, guten Herzens verziehen. Doch jetzt nähert sich der tote Olav wiederum dem Hofe von Lisät. Und es muß Herrn Eivinds Blut gegen des Zigeuner-Halsteins Blut aufs neue kämpfen. Soll denn dieser Kampf nun ewig fortbestehen?
Читать дальше