Karl Friedrich Kurz - Traum und Ziel

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Die Kindheit der Lohmanns könnte ein Idyll sein, als die Familie in den Ritterhof zieht. Mit fünf Töchtern kam Großvater Klaus einst mit seiner Frau vom Land in die Stadt. Wovon sie lebten, ließ sich schwer ergründen. Zuweilen arbeiteten sie, zuweilen trieben sie einen kleinen Handel. Irgendwie lebten sie und ernährten sich von einem Tag auf den anderen. Die drei Kinder Werner, Emil und Arnold erkunden das Riesenhaus und den wunderbaren Garten. Emil, dem Lebhaftesten unter ihnen, ist kein Spiel ist zu wild, keine Idee zu waghalsig. Arnold, der Jüngste, steht zwischen ihm und Werner, dem sensiblen und künstlerisch veranlagten Erstgeborenen einer der Töchter von Lohmann. Die neue Unterkunft hat aber Konrad, das Findelkind, erkundet. Ein Mädchen, das vielleicht einen lockeren Lebenswandel führte, brachte ihn ins Haus und verschwand für immer. Doch das Idyll ist überschattet durch die Brutalität des Vaters Hannes Frank, der als Oberhaupt der Familie seine Macht mit Schlägen untermauert. Zwischen Traum und dem Glück als Ziel schwankt das Leben der Familie: Falschgeld wird gefunden und verloren, eine Puppe wird zum Symbol einer heimlichen Jugendliebe, ein Geschäft bringt Gewinn und Verlust, eine Drogistenlehre verbrennt Arme und bringt den Tod. In den Töchtern der italienischen Familie, die eines Tages mit einzieht, liegt die gleiche Zukunft wie in Werners heimlich gemalten Bildern und Emils Machtgelüsten. Man kann seine Kindheit nicht abstreifen wie Staub: der Schatten bleibt …Kindheit zwischen Traum und Wirklichkeit – eine grausame Familiengeschichte.-

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Karl Friedrich Kurz

Traum und Ziel

Roman

11.–14. Tausend

Saga

Traum und Ziel

© 1940 Karl Friedrich Kurz

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711518434

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com

Ein Schatten am Fenster

Dumpfglühend wie der aufgehende Mond schwebt ein Fenster durch die Nacht.

Es ist kühl hier und still. In den Wolkenhimmel ragt verwischt ein Dach, halbverdeckt von der schwarzen Krone des riesigen Kastanienbaumes, der sich reglos gegen das Haus hinneigt, als wolle er ein Geheimnis belauschen.

Ein Schatten gleitet über die Gardinen.

Dieses Fenster und dieser Schatten scheinen das letzte, das einzige, was von der Wirklichkeit der Dinge zurückblieb. Die übrige Welt zerfloss in Formlosigkeit. Alles Leben ging unter in einer drückenden, unheilvoll lauernden Stille, die erfüllt ist vom verhaltenen Brausen des Stroms.

Nur ein verhangenes Fenster, über das in regelmässigen Zwischenräumen ein Schatten gleitet. Nichts als ein Zimmer, in dem ein Licht brennt. Ein Zimmer, in dem ein Mensch ruhelos wandert.

Zuweilen kommen aus der nahen Stadt die Stundenschläge. Tiefe Glockentöne, sie springen irgendwo in der Finsternis auf und tauchen wieder in der Finsternis unter.

Der junge Gärtner Alois bemerkte das erleuchtete Fenster und den gleitenden Schatten an der Gardine schon am Abend, als er zu seiner Liebsten ging. Nun kehrt der Gärtner von seiner Liebsten zurück, und der Schatten gleitet immer noch über die Gardinen. Alois hat gute Augen und mancherlei Gedanken in seinem Kopf. Stark und süss duftet der Jasmin, und der Gärtner murmelt: „Dort marschiert er wieder ... Marschiere immerzu, grosser Mann ...“

Gegen drei Uhr erlischt das Licht hinter dem Fenster; es erlischt nicht jäh, auf einen Schlag, sondern mit einer zaudernden Gemächlichkeit.

In dieser Nacht nahm der lange Marsch des Herrn Bondorf ein Ende. Irgendwie kam es — vielleicht war der Herr geistesabwesend, oder es lag ein kleiner Fehler am Gashahn. Am Morgen erwachte Herr Bondorf nicht mehr. Ein wenig verkrümmt lag er in seinem prächtigen Mahagonibett, lag unter der gelben Seidendecke und hatte einen bläulichen Schimmer im Gesicht. Neben ihm lag seine Frau, die noch immer jugendliche und ungeheuer stolze Madame Bondorf, die nur Französisch sprechen wollte und eine verwegene Reiterin war. Ja, da lag nun auch sie, blauschimmernd und sonderbar.

Das Zimmermädchen entdeckte die Sache. Wie jeden Morgen ging es mit dem heissen Kaffee ins Schlafzimmer, trat leise ans Bett, stiess einen pfeifenden Schrei aus und lief zur Köchin. Die Köchin, eine alte, abergläubische Person, rannte fort, den Gärtner zu suchen. „Oh, meine arme, sündige Seele!“ heulte sie und riss die Haustür auf. Ein frischer Nordwind sprang sie an und presste ihr den Rock gegen Bauch und Beine. In den Tannen sauste und fauchte es. Da und dort erhob sich vom Boden ein vom Winter vergessenes Laubblatt wie eine kleine, dunkle Hand, die schnell nach etwas haschte und wieder in die Erde zurücksank. Das alles schien der Köchin befremdlich und unheilkündend; dazu die Gestalt des Gärtners, von dem sie nur den langen, schmalen Rücken sah und eckige Schultern ohne Kopf. „Nicht umsonst zeigte sich das graue Garnknäuel“, seufzte sie. „Das bedeutet Unglück ... Alo—is!“

Der Gärtner kniete vor einem Blumenbeet, hörte den Ruf der Köchin, hörte auch ihre Schritte. Ohne aufzublicken, brummte er: „Was will es schon wieder, das dicke Halleluja ...“

„Alois — schnell ...“

„Was plagt dich?“

„Schnell, um Gottes willen — vielleicht ist noch ein Restlein Leben in ihnen.“

„Jetzt glaube ich aber — alte Angstflasche ... Wo brennt es?“

„Diesmal handelt es sich um ein Verbrechen ...“

In seinen groben, schmutzigen Stiefeln stapft Alois über den Perserteppich, streckt überaus gespannt den Kopf vor, schnuppert: „Hier riecht es verdächtig nach Gas und anderer Pestilenz.“

„Ja“, flüstert das Zimmermädchen.

„Hast du das Fenster geöffnet, Sophie?“

„Ja.“

„Und der Gashahn?“

„Den schloss ich.“

„Dann bleibt weiter nichts mehr zu tun“, entscheidet der Gärtner.

Blass und verstört schielt das Zimmermädchen hinter seiner Schürze hervor. „Leise — leise“, mahnt es.

Alois richtet seine grauen, klugen Augen auf das Bett, hebt mit zwei Fingern Frau Bondorfs weisse Hand von der Decke auf; hölzern folgt von der Schulter an der ganze Arm mit. Im Niederfallen schlägt die Hand dumpf gegen den Bettrand.

„Lass das!“ ruft entsetzt das Zimmermädchen.

„Sie merkt nichts mehr davon. Und hier gibt es nichts mehr zu flüstern, Sophie. Von diesen beiden ist eins genau so tot wie das andere.“

„Tot?“

„Schon kalt und steif.“

„Tot?“ wiederholt die Zofe atemlos.

„Das kannst du wohl selber sehen. Dabei ist nichts mehr zu machen. Natürlich muss man den Arzt holen. Aber zu machen ist nichts. Dieses hier muss sich kurz nach zwei Uhr zugetragen haben.“

„Schweig!“ stöhnt die Zofe. „Stets bist du so frech ... Geh hinaus!“

Alois geht. Bei der Tür dreht er sich noch einmal um, lässt seinen Blick missbilligend durch das prächtige Zimmer schweifen und sagt: „Kann man denn in einem solchen Raum sterben? Sollten diese beiden je in den Himmel kommen, werden sie es dort nicht besser treffen.“

Alois holte den Arzt. Es war nichts mehr zu machen. Der grosse Weinhändler Bondorf und seine Frau hatten diese Welt still verlassen.

Ein blosser Zufall vielleicht, oder ein Unglück aus Unachtsamkeit? Als die Obrigkeit erschien und strenge Nachforschung hielt, kamen gar sonderbare Dinge zutage. Die Bücher stimmten nicht. Wo stimmte es in diesem vornehmen Haus? Es fehlte überhaupt an allem und jeglichem — keine Barschaft, kein Bankguthaben, keine Forderungen, dafür gewaltige Schulden. Es wurde ein fürchterlicher Zusammenbruch.

Alma, das einzige Töchterlein, wäre über Nacht zum ärmsten Bettelkind geworden, wenn Frau Bondorf diese Schande nicht im allerletzten Augenblicke noch verhindert hätte. Sie gab ihren Schmuck her und versicherte ihr Leben; dieserart verhinderte sie es.

Merkwürdige Menschen. Harte Menschen. Stolze Menschen. Geldmenschen — das Leben gefiel ihnen gut in dieser Welt, solange ihre Kasse gefüllt war. Sobald der Reichtum verlorenging, verzweifelten sie, und das Leben gefiel ihnen nicht länger.

Ein grosses Gerede und Gerate hub an. Die Leute können nachträglich urteilen und verdammen. Die Leute wissen vielleicht einiges. Doch sie wissen nicht, was diese beiden gelitten, bis sie sich zum letzten Entschlusse durchgerungen. Niemand erfuhr etwas von den langen Gesprächen in den Frühlingsnächten, als der Schatten am Fenster hin und her glitt. Aber da sie nun tot waren, begrub man sie.

Von den vielen Freunden ihrer Licht- und Glanzzeit gaben ihnen nur wenige das Geleit zum Friedhof. Die Bondorfs hatten vielleicht recht in ihrer Weise: sie wussten, dass sie mit Geld geachtet und mächtig waren. Ohne Geld waren sie nichts.

Das grosse Haus wurde völlig ausgeräumt, vom Keller bis zum Dachboden, und alles kam unter den Hammer, alle Möbel und Teppiche und die Gemälde an den Wänden. Alles wurde fortgeführt; auch das Mahagonibett. Der Weinhändler und seine Frau starben jung; sie standen kaum im Sommer ihres Lebens. Nachträglich hiess es, ihr Leben sei der unverschämteste Schwindel gewesen. Die vielen Fässer, die man aus den weitläufigen Kellern heraufholte, waren teils völlig leer, teils mit blankem Wasser gefüllt.

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