Karl Friedrich Kurz
Heiterer Roman
Die Geisterkutsche
© 1950 Karl Friedrich Kurz
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
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ISBN: 9788711518458
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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Als könne sich hier nie etwas ereignen …
Da ist eine Straße. Es ist die Hauptstraße eines Städtchens weit hinten im Lande, in einer Gegend, die noch so gottgefällig unberührt blieb, daß ihr selbst die Eisenbahn fehlt. Wohl hört man in stillen Nächten den Pfiff der Lokomotiven und selbst das dumpfe Rädergedonner auf den Eisenschienen. Doch all das kommt von weit her, über einen Berg und einen großen Wald. Alle die Jahrhunderte lag das Städtchen abseits: vom breiten Heerweg, wo das Schicksal hitzig waltet, es lag am Eingang eines engen Bergtals, schlief und träumte, wenn draußen in der Welt gewaltige Taten vollbracht wurden.
Auch heute träumt es noch. Es verlangte nie nach rasendem Fortschritt, sondern war zufrieden mit seiner ehrwürdigen Ruhe.
Darum ist auch an dieser Straße nichts Besonderes, nicht die geringste Spur von Sehenswürdigkeit. Häuser hüben, Häuser drüben, ein Streifen gepflasterten Erdbodens dazwischen. Einige der Häuser sind alt; doch nicht alt genug, um als Rarität zu gelten. Die Pflastersteine sind grob und rund und glattgescheuert vom Tritt unzähliger Füße. Immerhin gibt es da und dort Anfänge von Bürgersteigen, ein paar Streifen Asphalt oder Zement, was fast sonderbar anmutet.
Es mag um die fünfte Abendstunde sein, eine stille Dämmerstunde im Märzen. In Winkeln, die die Mittagssonne noch nicht erreichen kann, ducken sich Häuflein kranken, schmutzigen Schnees. Im Wind aber, der zuweilen unruhig über die Dächer streicht, liegt die erste Frühlingsahnung.
Ein Wagen rasselt über die Pflastersteine heran. Obschon es nur eine kleine Kutsche ist, schwarzlackiert, mit blanken Fensterscheiben, lärmt es doch gewaltig unter den Rädern. Vor der Kutsche trabt ein Schimmel. Der Kutscher auf dem Bock trägt eine Mütze mit schwarzglänzendem Schild, an seinem Mantel blinken Messingknöpfe, und aus seinem roten Gesicht hervor wächst ein schreckhaft großer, struppiger und grauer Bart. Der Bart reicht von einem Ohr zum anderen. Es ist ein dicker Mann. Er heißt Martin.
Hinter der Straße liegt der Marktplatz mit dem großen, steinernen Brunnen, dem Rathaus und dem Gasthof zum Schwanen. Vor der Gasthofstür zieht Martin die Zügel an, und die Kutsche hält. Ein Herr steigt aus, mittelgroß, ein wenig rundlich.
All das ist so beruhigend alltäglich, die Straße, die Häuser, die wenigen Menschen auf der Straße, als ob sich hier niemals etwas Ungewöhnliches ereignen könnte.
Der Herr macht ein paar gemächliche Schritte, bleibt dann stehen und schaut sich um, ohne Neugierde. Er kennt die Gegend, von den zwitschernden Spatzen auf den Pflastersteinen bis zu den giebligen Ziegeldächern, und der zufriedene Ausdruck seines Gesichts bekundet, daß ihm das alles wohlgefällt.
In einer der brausenden Städte dort hinter dem Berg, wo es so viele Motorwagen auf Gummirädern und aller Welt Teufelei gibt, würde man Kutsche und Herrn überhaupt nicht beachten. Hier in dieser kleinen Stadt aber bedeutet es etwas. Jedermann kennt die Kutsche und achtet den Herrn, den Landarzt Doktor Hans Bohner, achtet ihn als einen der wenigen, auf die es in diesem Bergtal ankommt. Es wird also wohl doch keine Kleinigkeit sein, mit bärtigem Kutscher, blankem Wagen und rundem Schimmel bis vor die Gasthofstür zu fahren.
Der Doktor mag um die vierzig Jahre zählen. Im Schläfenhaar unter dem Hutrand zeigen sich einige graue Flöcklein. Ein wenig grau schimmert es auch aus dem gestutzten Schnurrbärtchen. Unter seiner Weste wölbt sich ein spitzes Bäuchlein. Aber das alles sind nur schüchterne Anzeichen, die neben dem frischen, rotwangigen Gesicht und den lustigen Augen gar nichts zu bedeuten haben. Mag der Doktor auch nicht länger ein Jüngling sein, so ist er doch noch ein junger Mann, satt von des Daseins Gütern und zufrieden mit allen Dingen und sich selber. Und so genießt er leichten Sinnes den Augenblick und freut sich über den erblassenden Himmel, über die alten Dächer und das vertraute Treiben der Straße.
Bis zu dieser Stelle ging der Doktor seinen Weg ruhig und zuversichtlich. Es war kein steiniger Weg, und er führte weder zu schroffen Höhen noch zu gefährlichen Abgründen. Es glich eher einer gemächlichen Fahrt auf weichen Polstern über ein ebenes Land.
Wahrlich, das Leben meinte es gut mit diesem Doktor. Es schenkte ihm vieles. Sobald er nur seine Hand ausstreckte, kamen die Dinge willig zu ihm. Das Leben schenkte ihm zur rechten Zeit auch die rechte Frau. Amalie, eine tüchtige Hausfrau, eine überaus kluge Frau, keine aufreizende Schönheit, nein; aber die Frau, die ihren Hans in ein schönes Haus führen konnte.
Amaliens Schätze lagen mehr im Verborgenen. Auch damit war der Doktor zufrieden. Es ging ihm gut. Er verlangte nicht mehr nach brausender Leidenschaft.
Einst war er ein wilder Knabe. Das ist längst vorbei. Das ist längst vergessen. Zwar bleibt der Knabe immer der Vorgänger des Mannes. Aber der Doktor fand sich leicht zurecht in den Forderungen des gesitteten Alltags, überwand den Knaben und trat ein in den Kreis, der ihm vorgezeichnet worden. Überall füllte er seinen Platz aus und wurde bald das, was er jetzt ist, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft und eine Respektsperson.
Über die Schulter sagt er: „Um halb zwölf fahren wir zurück, Martin.“
Und der Kutscher nickt. „Jawohl, Herr Doktor, um halb zwölf.“
Eine Stunde wird bestimmt. Alles gleitet sanft dahin. Alles ist geregelt mit Pflichten und Freuden. Jetzt geht der Doktor zum Stammtisch, zu Bier und Kartenspiel. Zweimal in der Woche fährt er aus seinem Dorf hinein in die Stadt. Festgefügt ist die Ordnung, die im Leben dieses Mannes herrscht.
Aber nun kommt etwas, das nicht vorgesehen ist im Stundenplan. Das kündet sich an durch einen Schimmer hinter der Glastür des Gasthofs, durch ein helles Seidenkleid, einen Frauenkopf mit dunklem Haar, durch etwas Fremdes. Nie zuvor sah der Doktor Ähnliches. Er starrt darauf in gespannter Erwartung. Ein kaltes Prickeln rieselt ihm vom Scheitel bis zur Sohle. Mit einem Schlage wird alles um ihn geheimnisvoll und schicksalhaft. Blitzhell schießt eine Ahnung von Unfaßbarem in ihm auf, blendet ihn, verschlägt ihm den Atem.
Die Tür öffnet sich. Festgebannt auf seinem Platze steht der Doktor, das Unentrinnbare erwartend. Es schwebt heran, überraschend, unglaubhaft wie ein Traumbild, wie eine heidnische Göttin mit strahlenden Augen unter hohen Brauenbogen und rotem Mund, weichem, rotem Mund. Die Augen richten sich auf den gelähmten Doktor. Um die Lippen huscht ein scheues Lächeln.
„Herr im Himmel …“, murmelt der Doktor fassungslos. Seine Wangen werden zu Eis, und seine Zunge wird zu einem Holzstück. Die Überraschung fährt ihm als heftiger Stich in den Rücken. „Herr im Himmel …“
Fünf Schritte mögen es sein bis zur Gasthofstür. Keinen Fuß rührt der Doktor. Er läßt die liebliche Unheimlichkeit an sich herankommen.
Jetzt sind es nur noch zwei Schritte. „Äpfelchen“, flüstert der lächelnde Mund. „Kügelchen … Guten Abend, Hänschen!“
Vielleicht sind es keine Worte, sondern es ist nur ein Hauch, ein leiser Seufzer. Vielleicht bildet der Doktor sich das nur ein. Was kann er denn hören, wenn ihm das Blut so gewaltig in den Ohren rauscht. In seiner Verwirrung greift er nach dem Hut.
Des Doktors Hut hängt frei in der Luft. Alles wird schwärzeste Zauberei. Des Doktors Arm versteinert sich. Um seinen Körper liegen die Kleider wie Blech. Die fremde Frau verhexte ihn.
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