„Olav? — Jawohl, der Hof mußte auf ihn fallen. Ja. Und wenn ich Zeit hätte, würde ich dich hinüberführen ... Aber dort ist also der Weg ...“
Alle Leute treten willig zur Seite. Es dehnt sich viel drohende Leere in der Luft.
Mit der Zeit kommt Thorbjörg nach Arnevik und erfährt, daß Olav am Helleberg erfroren ist und daß er schon begraben wurde auf dem Friedhof von Akerud. Dieses junge Weib hat bis zu dieser Stunde noch nicht erfahren, was der Tod ist; es glaubte nicht an den Ernst des Lebens. Seht, dieses junge Weib war nur ein Geschöpf der Freude und wahrlich ein Sonnenvogel; es wurde erschaffen zur Zierde, um viele Feste zu verschönen.
Auf dem Hofe von Arnevik wird Thorbjörg von Trauer umringt und von Reue und Schmerz geschlagen. Sie steht vor einem fremden Hause, sie steht auf einem fremden Wege. Ein finsterer hoher Berg reckt sich mächtig hinter allem. Thorbjörg steht in schauerlicher Einsamkeit und fürchtet sich. Sie findet keine Worte mehr vor Schwäche, sie kann nur noch stammeln und wimmern.
Wie es zuging? Was geschah? Warum er in den Felsen dieses fürchterlichen Berges sterben mußte?
In engem Kreise drängen sich Knechte und Mägde; ein Ring hilfloser, ängstlicher Gesichter. Und keiner kann Antwort geben; und keiner will etwas wissen.
„Aber auf Lisät — ja, dort weiß man es“, sagen sie. „Ja, dort weiß man jedenfalls mehr von dieser Sache.“
„Geh du nur nach Lisät und erkundige dich“, rät eine alte Magd. „Sie waren doch so gute Freunde von Jugend auf, er und Trygve.“
„Ja“, murmelt jemand, „und auch Jofrid möchte schon etwas erzählen und mitteilen können.“
Thorbjörg wandert nach Lisät. Das wird alles zu einem Traum und bleibt fast unerklärlich. Thorbjörg schleicht dahin als ein leibhaftiger Schrecken und bringt über die Leute von Lisät Bestürzung und Fassungslosigkeit.
Sie sind versammelt in der großen Stube, bei einem hellen, guten Birkenfeuer. Trygve ist da und Jofrid, und der alte Knecht Oswald ist da. Manchmal fällt ein Wort, ein sachtes, kleines Wort, das nicht nach einer Entgegnung ruft. Friede, Wärme und vornehme Stille herrscht in dieser alten Stube. Im Knistern des Feuers liegt Traulichkeit, überall zeigt sich Wohlstand und Geborgenheit. Wie befremdlich klingt da das erregte Geflüster vor der Tür.
Nun geht die Tür auf, und ein bleiches junges Weib mit großem, dunklem Blick erscheint.
„Ich bin Thorbjörg.“
Eine verzagte Stimme verkündet das. Das Gewimmer eines verängsteten kleinen Tieres. „Ja, ich bin die ganze Nacht gefahren ... Ich suche Olav ...“
Ein bebendes Mädchenkind. Jetzt faltet es die Hände und blickt von einem zum andern.
Das wird ein Zustand.
Der alte Oswald erhebt sich und geht still um das junge Weib Thorbjörg herum und geht zur Tür hinaus. Trygve erhebt sich, Jofrid erhebt sich.
Olav ist tot und begraben. In der großen Stube auf Lisät stehen die zwei Frauen, die durch sein Leben gingen, sehen einander in die Augen und fragen stumm ...
Wenn die Menschen sterben, irrt vielleicht ihre Seele noch ein Weilchen unter den irdischen Ereignissen umher und verursacht dieses und jenes, stiftet Freude und Verwirrung — niemand kann das so genau wissen.
Trygve macht nun drei, vier Schritte; er macht vielleicht sechs oder sieben Schritte, denn die Stube von Lisät ist geräumig genug. Es stehen viele Stühle und Tische da, und an den Wänden stehen alte Möbel mit schweren, echten Beschlägen. Es steht wahrhaftig auch noch Frau Dagmars alter Flügel da; und nun gibt dieser Flügel einen Ton, einen seltsam dunklen Harfenton, als streiche ein Windhauch durch die Saiten. Vielleicht kommt es nur daher, daß Trygve seine große Hand auf den polierten Deckel legte, als er vorüberschritt. Es ist durchaus nichts Übernatürliches. Aber dennoch — es geht ein dunkler Ton durch die Stille ...
Trygve ist nun der Meinung, er sei hier der Mann und der Herr. Er meint, es liege jetzt an ihm, zu handeln und das unmögliche Schweigen abzubrechen. Er macht sich streng und hart und reißt tiefe Gräben in sein Gesicht; groß und breit steht er auf seinen langen Beinen.
„Sie sind Thorbjörg?“ fragt er. „Aber Olav Arnevik ist doch in den Bergen umgekommen, weil Sie ihn verließen ...“
„Nein“, stammelt Thorbjörg. Wie wird sie so klein und zerbrechlich. Ihre Augenlider zucken und flattern. Ihre Hände fahren an ihrem Kleide hin und her. Sie zerrt mit wirren Fingern an den Bändern. „Ich saß ja die ganze Zeit in unserer Stube und wartete ...“
In Trygves Gesicht zuckt es auf. Da zuckt es auf in diesem schlichten Kopfe, der nur die ganz geraden Dinge erfassen kann, und Trygve fragt: „Dann waren Sie also nicht in Paris?“
„In Paris? Großer Gott! Nein, Verzeihung ... Nein, nein — erzählte er Ihnen denn davon? Nein, ich habe unsere Stube gar nicht verlassen ... Ich saß an unserem Tisch alle diese Tage. Er versprach doch, zurückzukommen. Er lief an einem Morgen fort, als ich noch schlief. Er schrieb auf den Tisch: Warte auf mich, Iris! Warte auf mich, schrieb er mit Kreide auf den Tisch. Ich fahre heim, schrieb er. Und am Schluß stand: Mein Sonnenvögelein ... Da durfte ich also nicht fortreisen ...“
Aber Trygve macht sich noch strenger und unerbittlicher: „Verhält sich dieses in Wahrheit so?“ fragt er, seinen kleinen Kopf zweifelnd zur Seite legend.
Oh, Trygve bleibt doch immer der Sohn Eivinds und daher wenig empfänglich für fremdes Leid. Hat denn dieser große Mann keine Augen im Kopf? Sieht er denn nicht vor sich all diese rührende Angst und zitternde Lieblichkeit? Sieht er denn nicht diese schreckensgrauen Lippen, die in völliger Selbstvergessenheit noch mit ihrem unschuldigen Sündenlächeln schmeicheln und überaus köstlich sind? Wie darf dieser Mann Trygve es nur wagen, sich zum Richter aufzuwerfen über ein junges, verzagtes Weib?
Doch nun geschieht etwas Merkwürdiges und fast Unnatürliches: Jofrid macht ein paar Schritte. Jofrid kommt ein paar Schritte näher. Seht, diese junge Herrin von Lisät geht bis zu dem Sonnenvogel Thorbjörg hin, faßt nach der kalten kleinen Hand und führt das fremde Mädchen zum Kaminfeuer. Ja, es geschieht wirklich immer viel Unerklärliches auf Lisät. Sollte es nun vielleicht Olavs Geist sein, der sich über Jofrid hinneigte und sie bat, diese Tat der Barmherzigkeit zu verrichten? Gott allein weiß das. Möglicherweise war Olavs Liebe zu diesem Sonnenvögelein so groß, daß sie im Tode noch Jofrid bezwingen konnte, so daß sie hingehen mußte zu Thorbjörg, die doch eigentlich ihre Feindin ist, die so sehr ihre Feindin ist, daß Jofrid vor kurzem noch Olavs Tod laut als eine Erlösung pries.
Ja, Gott allein kann wissen, wie dieses alles mit einander zusammenhängt. Thorbjörg versinkt in einem der großen Stühle vor dem Kamin. Es ist derselbe Stuhl, in dem einst Frau Dagmar gesessen und sich fürchtete und sehnte und am ganzen Dasein verzweifelte und ihre vielen Tränen weinte.
Zart und schmal kauert das Sonnenvögelein Iris im alten Stuhl, elend und in ungeheuerer Verzagtheit. Jofrid dreht sich zurück; da steht wahrhaftig noch immer Trygve bei der Tür, lang und unbeholfen und mit schmalen Lippen. Er will offenkundig noch ein Wort sagen; ein wenig hochmütig, wie er ist. Aber Jofrid starrt ihm ins Gesicht und nickt. Oh, kaum eine Spur, sie nickt nur mit ihren Augen. Dann geht Trygve.
Die junge Herrin von Lisät betrachtet das namenlose Kind der fremden Stadt lange. Vielleicht denkt sie in ihrem Herzen: das sind also die Lippen, die er küßte ... Und diesen Leib hat er mit seinen Händen liebkost ... Olav — Olav! denkt sie ... Und jetzt liegt er auf dem Friedhof von Akerud ... Nein, nein, was ist das nur? Ich bin wohl nicht bei Sinnen ...
Sicherlich, Jofrid muß in diesem Augenblick gar vieles empfinden in ihrem unbegreiflichen Frauenherzen.
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