„Wem müsst ihr denn jetzt das geliehene Geld zurückzahlen?“
Maggi schaute Lilo irritiert an. „Glaubst du, darüber hätten wir nachgedacht? Keine Ahnung, wird sich schon wer melden, oder?“
„Wenn es niemanden in direkter Linie gibt, kann es natürlich sein, dass deine Mutter deine Großmutter nun rechtskräftig vertritt, denn die dürfte den nächsten Anspruch auf das Geld ihrer toten Tochter haben.“
„Ach du dickes Ei!“ Unwillkürlich musste Maggi trotz ihrer Trauer lächeln.
„Du glaubst, meine Mutter rauscht an, die Schulden bei uns einzutreiben?“
Ich nickte, Maggi schüttelte verwirrt den Kopf. „Das wäre dann genau die Situation, die ich immer vermeiden wollte!“
Ein blonder, sehr dünner Mann, dessen lange Haare ganz uneuropäisch zu Rastalocken gedreht waren, die unter einer undefinierbaren Wollmütze hervorwehten, radelte über den Marktplatz, wich den letzten, abfahrenden Lieferantenautos aus und schwang sich vor dem Pannekokenhus vom Fahrrad herab.
„Da kommt Johannes, wir sind verabredet.“ Maggi schaute sich suchend nach der Bedienung um.
„Lass mal, das übernehme ich.“ Lilo bedeutete der Kellnerin, alles auf eine Rechnung zu setzen. „Ich übernehme sowieso Janas Essen, da wir gewissermaßen dienstlich hier sind. Grüß deine Leute von mir. Und viel Kraft, da wird noch einiges auf euch zukommen.“
„Heute Nachmittag gehen Susi und ich zu ‚Brot und Blüten’. Johannes hat die Unterlagen parat und will uns noch einiges erklären. Er ist unser Finanzminister! Tschüss und danke!“
Wir schauten der jungen Frau nach, die draußen am Fahrrad von dem Rastalockigen intensiv in die Arme genommen wurde.
„Nette junge Leute!“
„Wie lange sind sie schon verheiratet?“
„Hm – warte mal, ja, etwa so lange es den ‚Grünen Schwan’ gibt. Vielleicht sogar in Verbindung mit dessen Neugründung.“ Lilo wiegte nachdenklich ihren Kopf. „Glaubst du, dass die ihre Darlehensgeberin umgelegt haben, um die Rückzahlung zu vermeiden? Nein, das traue ich denen nun wirklich nicht zu. Außerdem ist Maggi doch schwanger.“
„Das sollte sie doch nicht von Mord und Totschlag abhalten, Lilo. Haben wir für den Kurs alles besprochen?“
„Dein Honorar: Scheck, bar oder aufs Konto?“
„Ihr seid eine offizielle Organisation, da kann ich keine Steuern schlabbern. Ich schreibe dir meine Kontonummer auf, dann muss keine von uns mit einer dicken Tasche Geld herumlaufen.“
Ich pulte die Konto- und Visitenkarte aus meiner Brieftasche und notierte Lilo die Nummer darauf. Lilo spielte derweil mit einem Bierdeckel und zerfledderte ihn nachdenklich unter ihren Händen.
„Mein Mann arbeitet gerade an einer Diplomarbeit über Menschen mit Behinderungen während der Nazizeit mit. Da oben, wo heute das Altersheim ist, da war damals deren Bewahranstalt. Und gleich daneben ein altes Fabrikgelände mit Kamin. Die alten Leute der Stadt erzählen, wenn der rauchte, roch es so seltsam süß.“ Sie schüttelte ernst den Kopf und ich reichte ihr die Nummer herüber. „Du hast es ja gehört, Maggis Großeltern arbeiteten dort, deshalb ist ihre Großmutter, eben Vera Mertens Mutter, wohl auch dort oben in dem Altenheim. Das ist eine ziemlich noble Sache, ihre Kinder könnten das gar nicht finanzieren.“
„Was war denn ihr Großvater?“
„Der Leiter des Heims, der Oberarzt. Vera Mertens Mutter war eine der Kinderkrankenschwestern.“
Lilo bezahlte unsere Rechnung und wir standen auf.
„Irgendwas hat mein Mann auch dazu erzählt.“ Sie warf sich den Mantel über und folgte mir auf den nun autofreien Platz hinaus. „Möglicherweise ist es das, was Maggi immer meint, wenn sie vom ‚blutigen Geld’ ihrer Familie spricht?“
„Was?“
„Mein Mann hilft einem seiner ehemaligen Schüler, ein junger Mann mit schweren, spastischen Lähmungen, dabei, die Diplomarbeit zu schreiben. Der Junge spricht sehr undeutlich und Jens macht einige der Recherchen für ihn hier im Landkreis.“
Wir standen am Rande des nicht so großen Marktplatzes. Die schmalen, grauschieferigen Fachwerkhäuser beugten sich wie sorgenvolle Gouvernanten über die dahineilenden Männer und Frauen unserer Gegenwart, die in der Metzgerei, dem Bäcker daneben, einem Spielwarengeschäft und einer Reinigung ihren Geschäften nachgingen. Sie blinzelten aus kleinen Scheiben den ersten Schulkindern hinterher, die bereits frei um die Ecken gerannt kamen und zogen sich ihre Dächer wie keusche Hauben dicht gegen den aufkommenden Nieselregen über ihre Fachwerkfalten.
Lilo nickte bestimmt: „Ich werde Jens fragen, was genau da oben los war.“
„Los war?“
„Hier bei uns in der Stadt war eines der größten Durchgangsheime für das so genannte ‚unwerte Leben’, ein KZ für so genannt ‚Mongoloide’, ‚Spastiker’ oder wen die sonst noch als Halbmensch abstempelten. Du musst mal in den Stadtpark gehen, gleich beim Kriegerdenkmal steht auch das andere aus den sechziger Jahren: Aber sehr viel kleiner und gut ver-steckt!“
„Ein Ort wie Hadamar?“
„Ja, und irgendwie mischten Vera Mertens Eltern da mit. Aber auf wessen Seite, das weiß ich nicht, das kann Jens mir vielleicht sagen. Veras Toleranz, ihre Solidarität mit allen Leuten, die schwach, ausgegrenzt oder sonst wie Außenseiter waren, das rührte daher, das hat sie uns auch oft genug erzählt.“
Lilo schüttelte mir die Hand: „Wir sehen uns am Freitagabend! Kommst du ein paar Minuten früher?“
„Natürlich. Die Bretter zum Durchhauen ja nicht vergessen! Ich brauche die gleich am Anfang, Samstag früh.“
„Sicher nicht! Bis dann!“
In ihren weiten Mantel gehüllt verschwand sie eilig in einer Seitengasse, die zu der Schule führte, aus der gerade eben die entlassenen Kinder geströmt waren, um ihren jüngsten Sohn aus dem ersten Schuljahr abzuholen.
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