Martina Dr. Schäfer - Wundersames Leben eines Ohrenmenschen

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Die vita narrativa des Ohrenmenschen ist ein Schelmenroman, welcher der Frage nachgeht, was eine andere Wahrnehmung, die gegen den Mainstream, verläuft, wohl mit einem Menschen und der dann mit der Welt macht.
Eine andere Wahrnehmungsweise der Welt verändert diese, was heutzutage allgemein bekannt ist.
Ob sich allerdings auch des Ohrenmenschen augenfixierte Gegenwart verändert, bleibt doch sehr fraglich. Menschen bewegen sich in unterschiedlichen Universen, dazu sagt man auch gerne `Kulturen`, die sich nur Zähne knirschend einander angleichen. Im Roman knirschen meistens und notgedrungen die Ohrenmenschen.
Der Held der Geschichte wächst etwa in der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts auf, in der Visualisieren, Schauen, Fernsehen und bildliche Signale setzen – kurz die Dominanz der Augen – das bestimmende Merkmal seiner Kultur und Gesellschaft ist.
Wie (über-)lebt es sich mit hypersensiblen Ohren, die Alles Dazwischen bemerken, alle Untertöne und Vordertöne und Nebentöne und Nuancen intriganter Zwischenmenschlichkeit oder begeisterter Verlogenheit?
So lernt man in den ersten Kapiteln, verschiedene Methoden der Ohrenreinigung kennen und hört in den darauf Folgenden Etwas darüber, was Ohrenmenschen, die auch Langsamkucker genannt werden, nicht können und wie sie hereinfallen, wenn sie es doch versuchen, auch das phänomenal akustische Gedächtnis der Ohrenmenschen im Allgemeinen und die Folgen für den Erzähler im Besonderen kommen zur Sprache. Ohrenmenschen können Steine singen hören, erzählen das aber tunlichst Niemandem und sind deshalb, in ihrer Weise, auch fürchterlich fromm.
Wirklich ein Wunder, dass sie dieses Jahrhundert überlebt haben. Früher Lebende taten das nicht.

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Wundersames Leben eines Ohrenmenschen

erbaulich beschrieben zum Nutzen Aller von Martina Schäfer

Da Augenmenschen ein gewisses, einschränkendes Hintereinander benötigen, befleissigt sich der Autor, seine vita narrativa in eine anständige Auflistung der Inhalte und Kapitel zu transponieren, die Anstand, Ordnung und eine gewisse, innere Entwicklungslogik suggerieren sollen:

I.

Erstes Kapitel, in dem er sich und zwei verschiedene Methoden der Ohrenreinigung vorstellt.

II.

Zweites Kapitel, in dem man weitere Ohrreinigungsmethoden kennen lernt.

III.

Im folgenden Kapitel hört man Etwas darüber, was Ohrenmenschen nicht können und wie sie hereinfallen, wenn sie es doch versuchen.

IV.

Das vierte Kapitel erklärt, dass Ohrenmenschen auch Langsamkucker heissen könnten.

V.

Ein nächstes Kapitel behandelt das phänomenal akustische Gedächtnis der Ohrenmenschen im Allgemeinen und die Folgen für den Erzähler im Besonderen.

VI.

Im sechsten Kapitel erfährt man, warum Ohrenmenschen Steine singen hören, das aber tunlichst Niemandem erzählen.

VII.

Das siebte Kapitel erzählt, was Ohrenmenschen ausserdem noch alles können und warum sie deshalb so fürchterlich fromm sind.

I.

Erstes Kapitel, in dem er sich und zwei verschiedene Methoden der Ohrenreinigung vorstellt.

Schon immer hatte ich ein sehr feines Gehör.

Meine Ohren stehen weit ab vom Kopf, Segelohren, durch das Stimmengewirr der Mitmenschen zu segeln, Radar fürs dazwischen Klingende.

Auch die Nase ist sehr fein.

Weniger die Augen: Ich finde alle Menschen schön. Sogar Frauen. Das kann manchesmal recht hinderlich sein.

Landschaften mochte ich schon immer, da man die ja hören und, nachdem man so auch ihre Perspektive aufgebaut hat, in ihnen herum laufen kann wie Fledermäuse durch ihre eigentlich undurchschaubaren Nächte fliegen.

Man sagt zu uns auch gerne Hans-guck-in-die-Luft , doch das stimmt im tieferen Sinne nun wirklich nicht, denn wir schauen im Grunde genommen Nirgendwo hin, also weder in die Luft noch auf den Boden, weshalb Ohrenkinder chronisch aufgeschlagene Knie haben und Ohrenjugendliche ungewöhnlich viel Geschirr beim Abspülen zerschlagen.

Wenn überhaupt wohin, schauen wir in unsere eigenen Kopfgewölbe hinein, in denen sich im Laufe von Lebensmonaten und –jahren all jenes Sehgerümpel anlagert, das wir nicht vermeiden können, aller Lärm, der sich Spinnweben gleich in den Gehirnwindungen fest klebt, all das wüste Äussere, dass die diversen Kopfareale voll- und verstellt, alle Unvermeidlichkeiten, denen Ohrenmenschen erst so nach und nach und im Laufe ihres Lebens Herr werden können und wovon diese vita narrativa nun Kunde geben soll.

Kinderärzte meinten, solche Segelohren, solch abstehende, seien eine Folge des jactatio nocturnis, dem ich zwischen Geburt (meiner) und erstem Geschlechtsverkehr heftigst und nächtelang frönte. Begleitet von mehr oder minder melodischem Gesang fremder und eigener Melodien.

Das konnte wohl manchesmal recht nervend sein. Leiern nannten die Erwachsenen diese Angewohnheit.

Ich selbst fühle mich einsam, wenn Nichts klingt. Andere Leute fühlen sich so, wenn sie im Dustern stehen.

Ich sagte: Wenn Nichts k l i n g t!

Lärm gibt es überall und zur Genüge Wie in einer Mitternachtsdisco Die Hölle - фото 1

Lärm gibt es überall und zur Genüge! Wie in einer Mitternachtsdisco. Die Hölle ist ein berieseltes Kaufhaus. Die Anderen haben Angst im Dunkeln. Angst habe ich keine! Ich fühle mich allein, wenn man nichts hört. Das ist ein grosser Unterschied. Ohrenmenschen sehen Nichts, wenn sie nichts hören.

So stellt doch die Baumaschinen ab, sonst stolpere ich über eure rot-weiss gebänderten Latten!

Also: Abfalten der Ohrmuscheln durch kontinuierliches Hin- und Herwenden des Kopfes bis in eine gewisse Nacht hinein, der berühmten und berüchtigten e r s t e n Nacht, primae noctis mit einer langen, schlanken, joggenden Kommilitonin.

Seit dem habe ich die sittliche Reife, in meinem eigenen Kopf spazieren zu gehen, wenn ich mich langweile oder alleine bin.

Was Ohrenmenschen schnell und sehr häufig passiert.

Wir langweilen uns selbst im Kino nach den ersten fünf Minuten. Doch wir sind daran gewohnt seit dem Kindergarten und können diese unendliche Langeweile in einer Welt aus Flecken, Formen und Fäkalien gut überspielen.

Dort, in der eigenen Hirnschale, ist es sichtlich leiser wie im Rest der Welt. Wer die Wirkung eines Stroboskops mal erfahren hat, weiss, was ich meine.

Ja, diese merkwürdige Welt mit ihren Menschen darin!

Die einzige Chance eines feinfühligen Kindes – Ohrenkinder und Ohrenmenschen sind heutzutage sehr in der Minderheit, gewissermassen herausgemendelt aus dem humanitären Genbestand seit der Aufklärung (Was für ein Wort! Als könne man bei Licht besser denken! Oder an einem knall-kalt-klaren Januarwintermorgen!) – besteht darin, selber möglichst viele Geräusche und Effekte von sich zu geben. Selber singend und sprechend hört man die Anderen zum Glück nicht so genau. Das ist angenehm und gut.

Auf diese Art überspielen wir auch die allgegenwärtige Langeweile in einer offensichtlichen Welt. Kein Mensch langweilt sich in der Gegenwart eines Ohrenmenschen, was zur Folge hat, dass auch Niemand auf die Idee kommt, w i r seien leidend an unendlicher Langeweile.

Manchesmal im Leben, als ich noch jünger und unausgeschlafener war, ertappte man mich beim Einschlafen in Sitzungen oder auf langwierigen Geburtstagsparties. Das war ein Erbe meiner Klavier- und Latein lehrenden Grossmutter. Dem lässt sich aber durch regelmässiges Ausschlafen am Morgen und gesunde Ernährung gut begegnen. Heute bin ich einflussreich genug, Sitzungen spätestens auf einen frühen Nachmittag zu verlegen und geburtstagsgeilen Freunden einen hübschen Brunch mal zur Abwechslung vorzuschlagen.

Ein weiteres Problem sind die beweglichen Antennen, die Verlängerungen unserer Gehörgänge. Man sieht sie kaum und das ist für unsereins recht unangenehm in dichteren Menschenmengen. Alle Welt latscht darauf herum, wenn die Fäden herabhängen oder zerknittert die feinen Tentakel, wenn sie durch die Luft wehen.

Wenn Ohrenmenschen nicht reden, singen oder sonst lauthals herumgestikulieren, entrollen sich ihre Sensoren automatisch aus den Tiefen des Innenohres heraus. Ohne unser Zutun schleichen sie sich zwischen alle Zeilen des Gesagten, lüften den Deckel der Meinereien, hören allerlei schräge Unter-, Ober- und Zwischentöne.

Ausgesprochenes schmettert als Solotrompete direkt in die Ohrgänge herein, dass es nur so fetzt. Das Ungesagte darunter brummelt als Trommelwirbel. Hintergedanken summen im Ostinato mit, Grundeinstellungen erscheinen im liegenden Bordun und plötzliche Meinungsänderungen als Flötendiskant. Gedankensprünge schmerzen das Ohr wie überblasene Blockflöten und Nichts ist so unangenehm wie eine schlecht gelogene Dissonanz, ein falsches Lächeln ähnelt dem Kratzen eines Violinbogens in der ersten Geigenstunde.

Schon in frühester Kindheit entdecken Ohrenbabies ganz eigenständig das homöopathische Prinzip, welches immer Gleiches mit Gleichem vergällt. Natürlich in stark verdünnten Zuständen. Tatsächlich, seien wir mal ehrlich, was ist das Singen eines Kindes in der Dunkelheit im Vergleich zum Röhren einer Boeing 747 quer übers Haus hinweg?

Ohrenkinder in statu hori (erster und oft einziger Tag im Kindergarten) sind also so weit, mittels eigenen Geschreis ihre empfindlichen Tentakel bei sich zu behalten. Später, in statu scolae, der ja nun eine unausweichliche staatliche Zwangsmassnahme für die nächsten 8 Jahre darstellt, meinen sie oft, Alles das wieder ausspucken zu müssen, was ihnen da so in die Ohren geträufelt wird. Das ist halt gut gegen Bauchweh und Schulversagen. Und bewahrt ihnen den Respekt vor ihren Lehrerinnen und Lehrern, die ja auch mal vollkommen sein können, so von Kindern und anderen Leuten genau hin gehört werden könnte.

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