"Nein," seufzte Zeit.
"Warum bist du hergekommen? Was hast du erwartet, zu finden?"
Der uralte Mann breitete die Arme aus.
"Hier gibt es nur verstaubte Bücher und Kräuter, die schon lange ihre heilende Kraft verloren haben."
"Ich kam, um nach dem Rest zu suchen..."
Angicore rieb sich am Kinn und sah sich um. "Ich weiß alles über die Sachen von Zarafir, die an anderen Stellen als hier aufbewahrt werden. Nun bekam ich Lust, hierher zurückzukehren und nachzusehen, was dieser Turm versteckt."
"Ich habe schon lange auf dich gewartet," unterbrach Zeit ihn.
"Dann hast du deine Zeit verschwendet," sagte Angicore.
"Nein," antwortete Zeit und lachte gedämpft vor sich hin, "ich verschwende meine Zeit nie." Er zeigte mit einem krummen Finger auf die Kräuterbündel unter dem Deckenbalken. "Ich habe diese Kräuter all diese Jahre von der Decke herabrieseln sehen. Aber du verschwendest deine Zeit, Angicore von Dynadan. Du hast nicht viel Zeit - und doch verschwendest du die, die du hast, hier zusammen mit mir."
Der Kaiser richtete sich auf und horchte. Er hörte die Schritte des Maruders auf den steinernen Stufen draußen. Der Säbel, der sich langsam auf dem Weg aus der Scheide befand, warf ein gedämpftes Pfeifen die Spirale der Treppe hinunter.
Angicore drehte sich auf den Hacken um und öffnete die Tür.
Er sah ein letztes Mal zu dem alten Mann, und nickte ihm zum Abschied zu.
"Danke," flüsterte er, "daß du mir diese Warnung hast zukommen lassen. Nun muß ich die Bedrohung suchen und finden, bevor sie zu groß wird."
"Suche nahe bei dir selbst..." sagte Zeit tonlos.
Der Maruder folgte ihm die Treppe hinunter, wie ein Schatten in dem gewundenen Schacht aus Stein. Jedes Mal, wenn der Kaiser stehenblieb, um nachzudenken, blieb der Maruder hinter ihm auch stehen.
"Suche nahe bei dir selbst!" Er überlegte wie rasend, was das bedeuten konnte, aber keine der Antworten, die ihm einfielen, ergab einen Sinn.
Er verließ den Turm und ging zu den Ställen.
Der Maruder folgte ihm mit drei Schritten Abstand.
Noch war die Sonne nicht weit über das Gewölbe des Himmels gelangt, und die Schatten bargen noch die letzte Kälte der Nacht in sich.
Der feuchte Dampf der fünftausend Pferde in den Ställen lag wie ein leichter Dunst über den langen, geraden Reihen der Stallgebäude. Als er endlich dorthin gelangte, wo sein eigenes Pferd stand, war es gesattelt und reitfertig.
Er wechselte die Kleidung in einem Raum hinter dem Stall, und ließ sie das Pferd hinausführen.
Kurze Zeit später war er auf dem Weg.
Er ritt auf seinem schwarzen Trakehner, durch die Tore an der Nordseite der Stadtmauer und weiter hinaus, auf dem staubigen Weg.
Der letzte Tau hing wie ein grauer Schleier über den Äckern und wurde von den Strahlen der steigenden Sonne verdunstet.
Im passenden Abstand hinter ihm folgten zwei Maruder im vollen Galopp. Sie hatten schnelle Pferde, fast so schnell, wie seines.
Er ritt weiter in den Wald hinein, folgte dem Pfad nach Westen, als der sich teilte, und ritt am Waldrand weiter, in die Dünen, und blieb erst stehen, als die Wellen den Sand von den Hufen des Trakehners wuschen. Hier, an der Grenze des Meeres, setzte er sich im Sattel zurück, und hob die Hand schützend gegen die blendende Sonne vor die Augen. Und dann spähte er über das unendliche, Eis grüne Fläche des Wassers, dem entgegen, von dem er glaubte, daß es kommen müßte, dorthin, von wo er glaubte, daß es kommen würde.
Aber während er so dasaß, in der Morgensonne, die die Meeresfläche mit einem glitzernden, flimmernden Dunst belegte, verging die Zeit. Die Zeit, von der er nur wenig hatte.
Die Maruder saßen wie zwei unerschütterliche Statuen in den Sätteln. Ihre Augen verweilten nur selten bei ihm. Sie suchten die Umgebung nach allem ab, was wie eine Drohung gegen ihn, den einzig wahren Herrscher, gedeutet werden konnte.
Er legte den Kopf schräg und lauschte den Wellen, die in einem langsamen, schwerfälligen Rhythmus an den Strand spülten. Er lauschte der Stimme des Meeres, hörte alles, was sie denen erzählte, die ihre Sprache verstanden.
Er lauschte der Welt, so wie Skillion es getan hatte, einmal, vor langer Zeit. Aber die Stimme erzählte ihm nichts von dem, was er gerne wissen wollte. Vielleicht, weil er sie nicht ganz so gut verstand wie Skillion.
Hinter sich fühlte er die Anwesenheit der Maruderfechter, den schweigenden...
Er breitete die Arme aus und rief mit lauter Stimme: "Gib mir eine Antwort..."
Aber es kam keine Antwort. Das Meer trotzte dem Kaiser der Menschen und erzählte von anderen Dingen.
Schließlich gab er auf, drehte das Pferd um und ritt zwischen den Dünen zurück in den Wald, von den Marudern gefolgt.
Den ganzen Tag beriet er sich mit seinen Ratgebern, hörte sich alles an, was ihn und sein Reich betraf und befahl, daß alle, die nach Krilanta gereist kamen, sich am Hofe einfinden und Bericht darüber ablegen sollten, wohin sie reisen wollten und was das Ziel ihres Besuches war.
Aber auch das brachte kein Ergebnis.
Am Abend faßte er darum den Beschluß, allein durch das vergoldete Tor zu gehen und den Klee im Wispernden Park zu betreten.
Er verließ die leuchtenden, mondbeschienenen Stufen der meterbreiten Marmortreppe und ging mit langsamen Schritten über den Kies im Palastgarten. Es knirschte trocken unter den harten Sohlen, ein Geräusch, das man weithin hören konnte -denn es war das einzige Geräusch, das es gab.
Während er ging, betrachtete er die Sterne. Sie waren von unendlicher Zahl, wie die Körner in dem Kies, den seine Stiefel betraten. Er stellte sich vor, daß er auf so einem Korn lief, der allmächtige Jaranakaiser, und fühlte sich auf einmal völlig unbedeutend.
Sein Blick wanderte vom Himmel weg und fiel stattdessen auf die goldenen Tore, die sich vor ihm auftürmten.
Auf jeder Seite der Tore stand ein Maruder Wache.
Sie standen mit gespreizten Beinen da und rührten sich nicht sofort. Erst, als er näher kam, und sie sehen konnten, wer er war, richteten sie sich auf und schlugen die Hacken zusammen. Es dröhnte im Hof, bis der Lärm, den sie hervorgebracht hatten, seinen Weg über die Dächer fand und verhallte.
Einer von ihnen machte Anstalten, für ihn das Tor zu öffnen, aber er gebot ihm mit einer Handbewegung, es sein zu lassen.
Er wollte es selbst tun.
Er zog das Tor hinter sich zu. Es war schwer und forderte für einen Augenblick seine ganze Kraft.
Dann lief er weiter in die Dunkelheit und die Schatten, über die großen Rasenflächen, die in weich geschwungenen Hügeln zum Fluß und zum See abfielen.
Das Wasser gluckerte über die Steine und floß träge an ihm vorbei, auf die unterirdische Grotte an der Mauer zu. Von dort floß es weiter in einem unterirdischen Tunnel zum Meer.
Er wanderte im Schatten der Gayabäume, in der Dunkelheit unter den gewaltigen Kronen. Ihre Ranken und Blätter hingen wie ein Schleier über ihm, am Ufer entlang.
Mitten im Wispernden Park ging er auf eine Brücke, überquerte den Fluß und betrat das Ufer auf der entgegengesetzten Seite.
Es war eine besondere Brücke, diese, seine Brücke. Gehauen aus einem einzigen Gayastamm und doch imstande, den breiten Abgrund, den der Fluß bildete, zu überspannen.
Er lauschte seinen eigenen Schritten und fühlte sich beobachtet.
Er, Angicore herrschte hier, so lange es Tag war. Er herrschte hier, bis die Sonne hinter den Bergen im Westen unterging. Aber nachts herrschte ein anderer als er im Wispernden Park.
Er lief weiter zwischen den Zwillingssteinen hindurch und ging langsamer. Der Baum stand vor ihm, der Baum Gaya. Er war so groß, daß kein Turm seines weißen Palastes über seine Krone ragte. Seine Millionen von Blättern hingen wie kleine glänzende Silbermünzen im Mondschein, und lange, bevor er ihn erreichte, war er schon in seinem Schatten gewandert.
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