Er ahnte schwach die Kontur eines Maruderfechters auf dem Balkon. Der Maruder dort draußen stand so still da, als wäre er tot, obgleich er so lebendig und todbringend war, wie nur etwas auf dieser Welt.
Er lauschte den regelmäßigen Atemzügen des Jungen, prägte sich, wie schon so oft vorher, jedes einzelne Detail seiner Züge ein. Die weichen, schwach roten Lippen, die langen Wimpern und die Hände mit den schlanken Fingern, die auf dem Kissen an seiner Wange lagen. Und dann die blauen Augen, die jetzt unter den weichen Augenlidern versteckt waren. Sie waren warm und schön, wie die seiner Mutter.
Angicore drehte sich um und schlich zur Tür hinüber, glitt lautlos in den Säulengang und lief weiter.
Die Decke war geschnitzt wie die Säulen, an denen er vorbeiging. Es waren Laub, Blätter und Ranken zu sehen, die sich von den behauenen Stämmen über ihm ausbreiteten. Sie waren so gut geschnitzt, daß, wenn man es nicht besser wußte, man glauben konnte, daß dies alles lebendig war.
Er liebte es, früh auszustehen und die Welt, über die er herrschte, aus dem Schlaf der Nacht erwachen zu sehen. Und er liebte es genauso, lange, einsame Spaziergänge in den Wäldern und Bergen zu machen; ab und zu von dem Jungen begleitet.
Angicore blieb stehen und legte die Hände auf das Geländer.
Während er langsam den Blick über den Rasen hinunter zu den Schwänen auf dem See im Wispernden Park schweifen ließ, dachte er dasselbe wie schon so oft vorher: daß der Junge das Kostbarste war, was er hatte, und daß ihm nichts Böses zustoßen durfte.
Das wäre sein, Angicores, Tod.
Er seufzte leise und schüttelte die düsteren Gedanken ab. Alles war friedlich und der Junge schlief - er hatte ihn gerade eben gesehen.
Er erreichte die gewundene Treppe und begab sich die Stufen hinauf. Sie war ein wenig ausgetreten, von den Schritten vieler Generationen der Jaranakaiser. Während er ging, dachte er zurück.
Er rief sich die Erinnerung an Zarafir ins Gedächtnis. Er erinnerte sich an den Gizal, der ihn auf der Treppe zurückgedrängt hatte. Er verdankte Duncan Yol sein Leben, dem besten Fechter, den ein Kaiser je in seiner Garde gehabt hatte. Und trotz all der Jahre, die vergangen waren, konnte er immer noch das Gelächter des Gizals auf der gewundenen Spirale der Treppe hören. Es war nur Einbildung, das wußte er, aber sie machte ihm eine Gänsehaut - diese Erinnerung.
Oben auf der Treppe blieb er einen Augenblick stehen und sah sich um. Es gab nur die nackten, rauhen Wände, beleuchtet von den kleinen Fenstern mit den Spitzbögen. Dann trat er an die Tür und bewegte die Klinke.
Obwohl sie all diese Jahre nicht geöffnet worden war, glitt die Tür mit verblüffender Leichtigkeit auf. Sie knarrte etwas in den Angeln, dann war sie offen.
Angicore ging ein paar Schritte vor und blieb stehen. Er erkannte den Geruch von Zarafirs Kräutern wieder, nur war er stärker und ranziger als damals. Sie hingen immer noch in dicken Gebinden vom Balken an der Decke, bedeckt von einer dicken Lage Staub.
Er ließ den Blick im Raum herum wandern, nahm sich viel Zeit, alles zu beobachten, bevor er etwas anrührte. Es war das erste Mal, daß er diesen Ort betrat, seit er ihn vor zwanzig Jahren verlassen hatte.
Das Bett war leer.
Als er das letzte Mal dastand, wo er jetzt stand, hatte Zarafir in dem Bett gelegen - ein sterbender, alter Mann, dessen mächtige, magische Kräfte nicht länger im Stande waren, weder sich selbst, noch ihn, seinen Kaiser, zu schützen. Nun stand er hier wieder, und fand alles so vor wie damals, nur das Bett war leer.
Als er über den Fußboden weiterging, wirbelte der Staub in kleinen Wolken um seine Füße. Er schaute aus dem Fenster hinaus, über das Meer, nach Illemed.
Wie nach einer plötzlichen Eingebung, drehte er sich um, langsam.
In der entferntesten Ecke, im Schatten der Tür, die immer noch halb offen stand, stand ein sehr alter Mann und betrachtete ihn.
Seine grauen Augen waren wie ein gewaltiger Abgrund in seinem faltigen Gesicht. Er stand mit den Händen über dem Bart, der ihm bis zum Leib reichte, gefaltet da. Der Bart war grau, wie mattgeschliffenes Eisen, derselben Farbe, die auch seine Augen hatten. Er sagte nichts, stand nur da und schaute quer über den staubigen Boden.
Angicore, der Jaranakaiser, trat einen Schritt vor und streckte ihm die Hand entgegen.
"Ich sah dich schon einmal," flüsterte er.
Der Alte nickte langsam, ohne den Blick von ihm abzuwenden.
"Du bist Zeit..."
Der Greis nickte wieder.
"Sahst du die Dinge geschehen und wie es seitdem gekommen ist?" Das war mehr eine Feststellung als eine Frage, aber der Alte nickte immer noch.
"Gibt es etwas, was ich hätte anders machen sollen?" fragte Angicore. Der erste Keim von Unruhe wuchs in seiner Seele.
"Das, was geschehen ist, ist geschehen," antwortete Zeit ruhig. "Nichts davon, läßt sich mehr ändern."
Angicore befeuchtete die Lippen mit der Zunge und ließ den Blick durch das Turmzimmer wandern. In all den Jahren, die vergangen waren, hatte er Zeit nicht ein einziges Mal gesehen.
Und das, obwohl er öfter nach ihm Ausschau gehalten hatte.
Nun stand er vor ihm, keine drei Schritte weg...
"Warum kommst du hierher?" fragte Angicore.
"Ich bin dort zu finden, wo es etwas zu erinnern gibt," antwortete Zeit ruhig. "Hier werden Dinge geschehen, die es wert sind, daß man sich an sie erinnert."
Angicore sah sich verwirrt um.
"Hier?"
Zeit schüttelte den Kopf und betrachtete ihn mit seinem unergründlichen Blick.
"Hier, in diesem Land, in diesem Palast."
"Was wird passieren?" flüsterte Angicore mit bebender Stimme.
"Das kann ich dir nicht erzählen," antwortete Zeit, "das weißt du. Du weißt auch, wo du die Antwort bekommen kannst."
Angicore nickte und holte tief Luft.
"Du hast einen Zipfel von Skillions gewaltiger Kraft gefunden," sagte Zeit leise. "Du hast etwas von dem gefunden, was alle im Laufe ihres Lebens zu finden wünschen. Du hast selbst gewaltige Kräfte in dir, Angicore von Dynadan!"
Der Blick des Kaisers flackerte über die Wände, zum Fenster und dem Anblick der schaumbedeckten Wellen, tief unten vor den weißen Mauern.
Zeit räusperte sich heiser. "Du suchtest und fandest einen Teil der Wahrheit, die versteckt in dem liegt, was sie Budjidjin nennen. Ich folgte Keram Bar, einmal, vor langer Zeit. Keram Bar und Skillion. Später folgte ich dem, der dein Freund werden sollte, Duncan Yol. Nach seinem Tod folgte ich dir, Angicore -Kaiser der Menschen!"
"Ich habe dich nie vorher gesehen, bis jetzt," seufzte Angicore.
"Man sieht mich nicht - ich lasse mich sehen!" antwortete Zeit spitz.
Angicore nickte, er wußte, daß es die Wahrheit war.
"Du wirst deine gewaltigen Kräfte brauchen, wenn du dich gegen das, was auf dem Weg ist, schützen willst. Ich habe es kommen sehen, nun warte ich hier, zusammen mit dir."
Es war kein Mitgefühl in Zeits klangloser Stimme, auch nicht in dem abgrundtiefen Blick.
"Jemand will mich meiner kaiserlichen Macht berauben?" versuchte Angicore.
Zeit schüttelte langsam den Kopf.
"Jemand will meine Schätze stehlen?"
Allein der Gedanke war absurd. Die Schätze aller Jaranakaiser waren zu allen Zeiten in den Kellern unter dem Palast versteckt gewesen. Es würde ein Heer brauchen, sich Zugang zu ihnen zu verschaffen. Und wenn Fremde endlich durchstießen, in die kaiserlichen Schatzkammern, würde die letzte Schlacht in den Kellern stattfinden. Und in den Kellern würden die Maruderfechter warten. Die Frage war sinnlos, aber die einzige, die ihm gerade einfiel.
Zeit lächelte kalt und es knirschte in seinem steifen Gewand.
Noch einmal schüttelte er den Kopf.
"Du würdest es mir nie sagen, selbst, wenn ich es erraten würde?" murmelte Angicore.
Читать дальше