Ich unterdrückte ein Schluchzen. „Sie haben versucht ihn umzubringen.“
„Sie haben es vielleicht geschafft“, sagte Alejandro.
Eine Welle der Übelkeit überkam mich. Ich griff nach dem blutverkrusteten Schnitt an meinem Hals. Auf einmal tat mir alles weh. Mein Hals. Meine Hand. Meine Stirn, die an den Spiegel geknallt, und meine Wange, die auf den Boden aufgeschlagen war.
„Untersuche ihren Kopf“, sagte Alejandro zu Jaz. „Sie ist viel zu blass.“
„Mir geht es gut.“ Das musste es. Ich brauchte Antworten, nicht noch mehr Probleme. Ich griff nach Alejandros Shirt. „Du musst Cristiano finden. Sein Handy könnte kaputt sein. Sie könnten keinen Empfang haben. Oder gezwungen sein, alles zurückzulassen. Er kann nicht … er braucht uns.“
„Ich habe schon ein Team draußen, das nach ihm sucht“, sagte Alejandro. Sein Versuch, mich zu trösten, scheiterte. „Laut GPS haben Cristiano und Daniel sich nicht von der Stelle bewegt. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen. Aber Max … sein Handy ist offline.“
Ich runzelte die Stirn. „Warum?“
„Wenn ich das nur wüsste. Aber er würde sich melden, wenn er es könnte.“
„Was passiert, wenn du innerhalb dieses Zehnminutenfensters nichts von ihnen hörst?“, fragte Pilar.
„Das ist noch nie vorgekommen“, antwortete Jaz.
„Noch nie?“ Ich sah zu Alejandro. „In all den Jahren, die du Cristiano kennst, kam es noch nie zu einer Fehlkommunikation oder einem Unfall oder …“
„Nie.“ Er sah auf die Uhr. „Wir finden immer einen Weg, uns zu melden, selbst wenn wir irgendwo ein Telefon organisieren müssen. Es ist jetzt schon über eine halbe Stunde.“ Alejo schniefte und griff nach dem Türgriff. „Ich muss …“
„Das muss nichts bedeuten“, sagte Pilar. Ihre Stimme wurde lauter, als sie Alejandro finster ansah. „Handys lassen einen ständig im Stich. Und du musst an deinem Verhalten arbeiten.“
„Ich versuche nur, Natalia vorzuwarnen.“ Auch wenn sein Tonfall brüsk war, sah man Alejos Augen die Sorge an. „Selbst, wenn wir die Zehnminutenregel einmal außer Acht lassen, würde er niemals so viel Zeit verstreichen lassen, ohne Natalias Lage zu checken.“
Oh mein Gott. Meine Knie gaben nach und ich griff nach Pilars Arm. Alejo hatte recht. Cristianos Schweigen sprach lauter als alles. Unsere Geschichte war turbulent, eine Ehe, die eher einem Schlachtfeld glich, und wir hatten uns wochenlang gezankt. Aber in meinem Innersten wusste ich es. Er hätte alles in seiner Macht Stehende dafür getan, damit ich in Sicherheit wäre. Und auch wenn ich ihn mir öfter als ich zählen konnte aus meinem Leben gewünscht hatte, wollte ich doch, dass auch er in Sicherheit war. Ich wollte ihn zurück.
Alles um mich herum begann, sich zu drehen. Ich rutschte an der Wand hinab und legte den Kopf auf die Knie. Wenn ich noch irgendwelche Zweifel gehegt hatte, so verschwanden sie jetzt direkt vor meinen Augen. Etwas, das er auf dem Kostümball damals gesagt hatte, kam mir in den Sinn. Sein letzter Wunsch war gewesen, mich schreien zu hören.
Und der Himmel hatte ihm diesen Wunsch erfüllt.
Meine Welt bebte und ich schreckte aus dem Schlaf hoch. Jaz beugte sich über mich, hinter ihr surrten die Deckenleuchten, die so grell waren wie die Sonne.
„Welchen Monat haben wir?“, fragte sie.
„Was?“ Ich setzte mich langsam auf. Ich konnte mich nicht daran erinnern, mich auf dem Boden mit einer Decke zusammengerollt zu haben.
„Wie alt bist du?“
„Ich … zwanzig. Warum?“
„Passt schon.“ Jaz stand abrupt auf und ging wieder zu ihrer Seite des Raumes.
Sie setzte sich in eine Ecke, zog die Knie an die Brust und legte die Hand mit der Waffe auf einem Knie ab. Ich drückte mir den Handballen gegen den schmerzhaft pochenden Kopf und stellte fest, dass er verbunden war. Dort, wo der Schnitt von dem Spiegelglas war, hatte man mir auch die Hand verbunden. „Was ist passiert?“
Sie starrte weiter auf die Tür. „Du bist ohnmächtig geworden.“
Ich sah alles doppelt. Im ganzen Raum lagen Decken und Kissen verteilt. Mehr Frauen waren aufgetaucht. Bis auf Jaz schliefen alle.
„Wie lange war ich weggetreten?“ Die Frage kam in einem kratzenden Flüstern aus meinem traumatisierten und protestierenden Hals.
„Keine Ahnung. Ein paar Stunden?“ Sie seufzte tief. „Alejandro sagt, oben ist alles gesichert, aber sie kümmern sich noch um die Leichen.“
„Leichen? Mehrere? Gibt es Neuigkeiten von …“ Ich konnte mich nicht dazu bringen, seinen Namen auszusprechen. Cristiano. Ihn sogar zu denken, verursachte mir Herzschmerzen.
„Alle Frauen, die überlebt haben, sind hier. Kein Lebenszeichen von Cristiano.“
Ich kämpfte gegen eine neue Welle der Übelkeit an. Kein Lebenszeichen war das Schlimmste. Alles deutete auf seinen Tod hin. Ich musste aber daran glauben, dass er noch am Leben war. Dass er, genau wie ich, gekämpft hatte, so heftig wie möglich. Dafür, dass er mein ganzes Leben an mich geglaubt hatte, war ich es ihm schuldig.
„Niemand hat sich gemeldet. Nicht Max. Nicht Daniel oder Cristiano. Sie sind tot.“ Ihre kleine Stupsnase zuckte. „Was willst du jetzt deswegen unternehmen?“
„Bitte?“
„Sie haben deinen Mann umgebracht. Nicht nur irgendeinen Mann. Sondern den Anführer eines mächtigen kriminellen Syndikats. Unseren Retter. Unseren Beschützer.“
Ich hob den Kopf. Sie erwartete, dass ich mir Belmonte-Ruiz vorknöpfte? Nein. Sie erwartete von mir, dass ich mich duckte und zusammenbrach, oder davonlief. Vielleicht wäre das auch clever. Wenn Cristiano de la Rosa sie nicht schlagen konnte, konnte ich es auch nicht. Allerdings hatte ich gerade einen Angreifer niedergestreckt, der mir gegenüber klar im Vorteil gewesen war. Aber ich konnte jetzt nicht an so etwas Beängstigendes denken. Ich rieb mir die Ellbogen, die neuesten, aber nicht die einzigen Stellen, die mir wehtaten.
„Hast du meine Wunden versorgt?“, frage ich Jaz, als ich den Erste-Hilfe-Koffer neben ihr stehen sah.
„Ich habe dich geweckt um zu sehen, ob du eine Gehirnerschütterung hast. Glaube ich aber nicht.“
„Woher weißt du so etwas?“
„Ich habe das schon oft für Cristiano und die anderen Männer gemacht. Dir fehlt anscheinend nichts.“ Sie zog die Knie noch enger an sich. „Was zu schade ist. Es würde mir einen Haufen Ärger ersparen. Ich hab dir gesagt, was dich Cristianos Leben kosten wird.“
Meins.
Pilar setzte sich von ihrem provisorischen Bett in der Ecke auf und rieb sich die Augen. „Was soll das heißen?“
„Dein Schicksal ist mit seinem verknüpft.“ Jaz sah zu Pilar. „Und deins auch.“
„Cristiano hat sich meinetwegen in Gefahr begeben“, erklärte ich Pilar. „Laut Jaz ist es meine Schuld, wenn er stirbt.“
Pilar hob die zittrigen Hände an den Mund. „Und sie werden uns umbringen?“
Ich hatte immer versucht, Pilar zu beschützen, aber wenn Cristiano mir eine Sache beigebracht hatte, dann dass keine Waffe gegen die Wahrheit ankam. Je mehr sie wusste, desto größer war ihre Chance, hier lebend herauszukommen. „Sie werden es versuchen.“
Ich hielt Jaz’ Blick stand. Sie machte mir keine Angst. Ihre Drohungen entsprangen der Sorge. Das war mir klar, weil wir beide vor der gleichen Sache Angst hatten. Nämlich, Cristiano zu verlieren. Sie wollte, was ich wollte. Sein Überleben. Die Frage war, warum ich mir um ihn Sorgen machte. Ich hatte Cristiano von mir gestoßen, wo ich nur konnte. Bloßgelegt, ohne jegliche Verärgerung, hinter der ich mich verstecken konnte, blieb nur meine ursprüngliche, ungetrübte, unerfindliche Hoffnung. Dass er am Leben war. Dass er zu mir zurückkommen würde. Dass ich die Möglichkeit haben würde, ihm zu sagen, dass ich nicht mehr dieselbe war, die damals hier ankam. Und, dass ich ihn nicht mehr als den gleichen Mann sah.
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