»Wir müssen eine bessere Wacheinteilung finden«, sagte Elga heute am Vorabend unseres Auslaufens. »Dieser Vier-um-vier-Stunden-Törn ist mörderisch.«
»Wie wär’s, wenn jeder während der Nacht zweimal 3 Stunden geht?« schlug ich vor. Das hörte sich im Hafen wundervoll an.
»3 Stunden sind als Wachzeit gut, als Schlafenszeit aber zu kurz«, gab Elga zu bedenken. Wir rechneten hin und her.
Schließlich hatte ich eine Idee. »Wir rechnen die Nacht immer mit 12 Stunden. Paß auf, Schlafmütze, wir machen die Nacht jetzt eine Stunde länger.« Und ich erklärte, was mir vorschwebte.
»Verstanden?« fragte ich dann.
»Nein.«
»Also – hier.« Ich malte auf eine alte Seekarte:
»Die Nacht hat nun 13 Stunden. Wir haben anfangs jeder 4 Stunden Schlaf. Du kannst sogar eine noch längere Freiwache haben, wenn du nach dem rechtzeitigen Abendessen vor 19 Uhr in die Koje kommst. Während des Tages teilen wir die Zeit zum Schlafen so, wie es Segelmanöver, Arbeit und Navigation zulassen.«
»Ja«, sagte Elga, »laß uns das ausprobieren.«
Nach dem Abendbrot ruderten wir zur »Bella Donna« hinüber. Bob und Sheila wollen in diesem Jahr über die Bahamas, Bermuda und die Azoren nach England zurücksegeln.
»Wer geht denn außer uns noch in den Großen Ozean?« fragte ich, als wir mit den beiden im Cockpit saßen, jeder mit einem großen Glas Rum-Cocktail, dessen Mixen Bobs anerkannte Spezialität war.
»Die ›Shireen‹, die ›Takebora‹ – ja, und ihr. Da ist auch noch die ›Posh‹«, sagte Bob. »Sie sind alle schon unterwegs Richtung Panama.«
»Wir sind also die Nachhut von vier Pazifikjachten. Erinnert ihr euch: in Las Palmas waren wir fünfzehn für den Atlantik. Es werden weniger und weniger, je weiter wir von Europa fortkommen.«
»Schreibt ihr uns?« fragte Sheila. »Es wäre schön, von Sonne und Segeln zu hören, wenn wir im Herbst wieder im Nebel sitzen.« Wir saßen und sprachen – sprachen bald über Winde und Kurse und Jachten. Wir wußten, daß dies unser letztes Gespräch für Jahre, vielleicht für immer war.
Dann nahmen wir Abschied.
Jetzt sitze ich in unserer Kajüte. Elga schläft bereits. Ich denke über die Freundschaft zwischen uns Jachtseglern nach. Sie ist intensiv und ehrlich – grenzenlos in Hilfsbereitschaft und Gedankenaustausch. Den gemeinsamen Stunden im Hafen folgen einsame Monate auf See. Dann hört man voneinander – durch andere Freunde, durch einen Brief. Und sieht man sich wieder: Jahre und Weltmeere liegen dazwischen. Die Freundschaft ist tiefer geworden.
So lebt zwischen den Kontinenten mit ihren staatlichen Grenzen eine kleine Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Sie kennen keine Sprach- und Grenzschwierigkeiten, keine Farb- und Rassenunterschiede. Politik ist für sie eine längst überwundene Kinderkrankheit. Stets ist ihre erste Reaktion: Unbekanntes verstehen zu lernen, das hat die See sie gelehrt – ihre zweite: zu helfen, wenn es notwendig ist. Sie kommen von überall her und gehen nach überall hin – auf kleinen Schiffen über das Meer, das ihr Leben und Denken formt.
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Balboa, Panama Canal Zone, im Februar 1965 |
Unsere Freunde standen am Ufer oder auf den Kajüten ihrer Jachren und winkten. Einige sprangen auf die alten Kanonen, andere kletterten in die Wanten der Mäste. Sie riefen alle: »Farewell!«
»Kairos« segelte aus der Bucht von English Harbour. Elga weinte. Ich schluckte. Die winkenden Gestalten wurden klein und verschwanden hinter den Ruinen der Battery auf Barclay Point. Wir waren plötzlich allein.
»Kurs 259 … Grad … am Kompaß«, sagte Elga vom Kartentisch. »Er führt genau … zwischen … Montserrat und … Redonde hindurch.«
Heiser sagte ich: »Es ist schön, immer wieder Abschied zu nehmen.«
Elga schüttelte den Kopf.
»Doch«, fuhr ich fort, »nach jedem Abschied brauchen wir uns um so mehr.«
Der atlantische Nordost-Passat ist ein Seewind, dessen blaues Wasser- und Himmelreich durch den Riegel der Westindischen Inseln erheblich gestört wird. Bevor er über den Cordilleren und Mangrovensümpfen des amerikanischen Festlandes enden muß, rafft er noch einmal alle Kraft zusammen und weht mit stürmischer Heftigkeit.
Unzählige Regenböen kamen. In breiter Front zogen sie über den Horizont: schwarze Regenwände, gekrönt von weißen Kumuluswolken. Während der vorige Schauer noch die Kimm voraus unsichtbar machte, fiel schon der nächste über uns her. Die zwischenzeitlichen Sonnenperioden reichten nicht aus, unsere Kleidung zu trocknen. So müßten wir Ölzeug tragen. Von außen regennaß, von innen schweißnaß – es war unerträglich. Aber wir wollten uns keine Lungenentzündung holen.
Der Wind war böig-unruhig. Ein Segelmanöver folgte dem anderen. Die Feuchtigkeit weichte die Haut der Hände auf. Blasen entstanden, entzündeten sich. Jeder Griff schmerzte, wenn die lahmen Finger sich ins Segeltuch krallten.
Erschöpft krochen wir in unsere Kojen. Unlustig quälten wir uns wieder an Deck. Wir verfluchten die Seefahrt.
Dann wurde das Wetter schön. Für vier Tage wehte der Passat gleichmäßig aus Nordost. Unser Bordleben nahm erträgliche Formen an. Der Abschiedsschmerz wich. Wir setzten die Passatsegel, gingen aber unsere Ruderwachen weiter, da wir wegen starken Schiffsverkehrs »Kairos« nicht sich selbst steuern lassen wollten. Unsere neue Wacheinteilung bewährte sich gut.
Wir hatten uns gerade wieder ans Leben auf See gewöhnt, als eine magische Klarheit über den Horizont stieg. Die Passatwolken, leichte Schönwetterwolken, wurden von ihr aufgesogen. Trotzdem wurde die Luft klebrig-feucht. Ein Schooner, der von achteraus langsam aufgeholt hatte, reffte Segel und drehte nach Süd ab. Wir segelten weiter.
Nachmittags 16 Uhr wehte es aus Ostnordost Stärke 6. Um 18 Uhr war es Windstärke 7 aus gleicher Richtung. Das Barometer zeigte nichts Außergewöhnliches. Ich reffte beide Passatsegel. Sie haben ein Bindereff und müssen zum Reffen heruntergenommen werden. Bei den heftigen Schiffsbewegungen war es ein langwieriges Unternehmen. Elga steuerte. Als die Sonne unterging, sahen wir vor ihrem roten Ball eine aufgewehte, feine Wasserstaubschicht über der groben See. Um 22 Uhr wehte es mit 8.
»Kairos« kam nun von den Wellenkämmen nicht mehr frei. Seine Fahrt war zu groß. Die mitlaufenden Seen versuchten ihn querzudrücken. Der Rudergänger arbeitete mit ganzer Kraft. Ich barg das Backbord-Passatsegel. Jetzt machte das Schiff wieder sichere Fahrt durch die Seen. Der Wind nahm weiter zu, er jaulte im Rigg. Der Seegang wuchs und lärmte wie ein Güterzug. Der Himmel zeigte klare Sternenpracht.
»Kairos« entfaltete eine uns bisher noch nicht bekannte Kraft. Da kamen diese Seen aus der Dunkelheit, steilten sich hinter dem Schiff auf. Das Heck wurde gehoben. Die See griff zu – Gegenruder jetzt! – der Bug kam hoch. Der Wellenrücken bildete kochende Kaskaden zu beiden Seiten des Schiffes und zog, während das Heck abwärts fiel, als solide, weiß-gefleckte Wand in die Nacht. »Kairos« schüttelte sich und warf das Wasser ab. Die nächste See kam rollend.
Manchmal brach sich der Seegang direkt hinter dem Heck. Wie mit einer Faust geschah der Schlag. Wasserhände griffen ins Cockpit, Gischtfinger umklammerten den festgelaschten Rudergänger, der plötzlich in reißendem Wasser saß und den Kurs nach der tanzenden Kompaßrose steuerte.
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