Plötzlich begreife ich. »Mein Gott – Elga!«
»Ich war angebunden«, sagt sie. »Und jetzt bin ich naß.«
»Geh gleich ’runter und zieh dich um.«
Es muß ein Roller gewesen sein, eine von diesen Gewaltseen, die entstehen können, wenn alle wellenbildenden Momente besonders günstig zusammenfallen: Wind, Strom, Dünung, Windseegang. Sie sind selten, doch gefährlich, weil sie ohne Vorzeichen kommen.
Nachdem Elga sich umgezogen hatte, zurrte ich das während der Inselsegelei längst vergessene Persennig über die Luke und setzte die Laternen wieder unter Licht. Den Rest meiner Freiwache verbrachte ich damit, den Inhalt der aufgesprungenen Schrankfächer aus allen Winkeln der Kajüte zu sammeln und wieder einzupacken. Als ich Elga anschließend am Ruder ablöste, fühlte ich mich wie ein pensionierter Akrobat.
Zauberhaft zart in der rosaroten Morgendämmerung kamen Backbord voraus die Umrisse der Insel Antigua, Backbord querab die von Montserrat in Sicht. Von Osten zog blau-schwarz eine Schauerbö herauf, die uns während des ganzen Vormittags zu schaffen machte und die Ansteuerung der im Regen verschwundenen Insel Antigua erschwerte. Wir hielten mit 20° ostwärts vor, da wir den westwärts setzenden Strom aussegeln mußten. Unter keinen Umständen wollten wir westlich von English Harbour an die Küste kommen, da wir dann hätten aufkreuzen müssen. Die Einfahrt von English Harbour ist außerdem sehr schwer zu finden. Sie liegt zwischen zwei Felsenkaps, die sich überlappen.
Mittags kam die Sonne durch. Der Passat wehte mit Stärke 6 nun, immer noch aus Ost. Wir segelten bis dicht unter die Küste und fielen ab. Trotz der mehrmals im Handbuch gelesenen Küstenbeschreibung konnten wir die Einfahrt nicht entdecken. Wir segelten an den schroffen Shirley Heights vorbei. Da sollten alte Kasernen stehen – zu sehen war nichts von ihnen.
»Hier, Herr Admiral!« rief Elga plötzlich. »Da ist Fort Charlotte! Und da die Batterie auf Barclay Point!« Es waren graue Ruinen aus Nelsons Tagen.
»Sehr gut«, sagte ich, »a-hm – bringen Sie mir Dreispitz, Fernrohr und Entermesser.«
Da lag die Einfahrt. Wir setzten unsere Flaggen und liefen ein. Die Bucht ist schmal und gewunden in ihrem Verlauf nach Norden. Das schützt sie vor Winden aus allen Richtungen und macht sie hurrikansicher. Mit Festungen an beiden Seiten gab sie in alten Tagen der englischen Westindienflotte einen guten Hafen. Hier pflegte der Britische Löwe seine Wunden, wenn ihm das Fell zerzaust worden war. Heute ist English Harbour Stützpunkt einer internationalen Jachtflotte von Atlantikseglern.
Wir ankern im hinteren Teil der Bucht, nicht weit von der Pier entfernt. Etwa 25 Jachten aller Größen und Takelungsarten liegen dort mit ausgebrachten Bugankern, die Heckleinen belegt auf senkrecht in die Pier gerammten Kanonenrohren. Da sind auch jene, die wir bereits an Spaniens Küsten, auf Madeira oder in Las Palmas getroffen haben. Nach der Einklarierung, als Flagge »Q« bei uns niedergeht, besuchen uns die Freunde.
Bryan mit Frau und Töchterchen kommt als erster von seiner »Askadil« herübergerudert.
»Hallo, wie geht’s euch?«
»Sehr gut. Und euch?«
»Gut, danke. Wie lange?«
»30 Tage von Las Palmas nach Barbados.«
»Wir haben’s in 26 Tagen geschafft. Kinder, ich sag’ euch, ›Askadil‹ ist gelaufen! Und der Passat war gleichmaßig und stark.«
»Wir hatten 8 Tage nur umlaufende schwache Winde. Es war eine ziemliche Quälerei.«
»Wo?«
»1000 Seemeilen ostnordöstlich von Barbados begann es.«
»Sieh an, da lag auch die ›Slocum‹ fest. Ihr habt zu weit südlich gestanden.«
Während die Frauen ihre Verpflegungs- und Stauprobleme besprechen, hängen Bryan und ich bald über der Atlantikkarte und diskutieren.
»Nicht zu weit südlich, Bryan. Wir lagen auf der gleichen Route, die Hiscock zweimal segelte …«
So weben sich Geschichten über den Ozean. Sie werden für Jachtsegler zum Bestandteil der See wie Wind, Strömung und Wolkenzug. Sie sagen nüchtern, was Segler auf kleinen Schiffen richtig und was sie falsch machten. Glück oder Unglück heben sich aus persönlicher Freude oder subjektivem Leid zum Besitz aller, die auf gleichen Kursen segeln.
Man sagt heute allgemein, daß Segel von den Weltmeeren verschwunden sind. Das ist nur richtig in Hinsicht auf die moderne Berufsseefahrt. Mehr Jachten denn je kreuzen in langen Distanzen die Weltmeere.
In diesen Reisen liegt kein Profit, sie dienen keinem Zweck im üblichen Sinne. Sie werden oft mit bescheidensten Geldmitteln, mühsam erspart, und immer mit unbeirrbarer Zielstrebigkeit durchgeführt. Gewiß, sie reichen manchmal an die Grenzen des sinnlos Phantastischen. Eine Skala, die von krankhaftem Ehrgeiz bis zu weltfremder Träumerei reicht, liefert unzählige Motive. Sie enden mehr als einmal in Untergang, Strandung und Schiffbruch. Aber von der Mehrzahl wird auf diesen zwecklosen Reisen nüchterne, saubere Seemannschaft betrieben. Es werden Leistungen vollbracht, die ohne Zuschauertribünen und ohne johlendes Massenpublikum nach nichts weiter fragen als nach der Bewährung von Jacht und Mannschaft.
»Wo ist die ›Takebora‹ mit ihrem Einhandskipper?«
»Frag mich nicht«, sagt Bryan. »Irgendwo westwärts. Der Junge hat’s wirklich eilig.«
»Wann wollt ihr weiter?«
»Gar nicht.«
»Was? Aber –«
Bryan winkt ab. »Gil bekommt ein Baby. Wir wollen die ›Askadil‹ verkaufen und nach Sydney fliegen. Dort werde ich wieder eine Praxis eröffnen und – weißt du, wir segeln dann eben später von der anderen Seite in den Pazifik. Wenn die Kinder größer sind …« Er zuckt hilflos mit den Schultern.
Ich weiß, wie sehr dieser Mann an seinem Plan hing, die pazifischen Inseln segelnd zu besuchen. Ich weiß, mit welcher Hartnäckigkeit er alle Schwierigkeiten überwand. Und ich bewundere, mit welchem Können er seine »Askadil« segelt. Bei uns an Bord können wir alles mehr oder weniger teilen – bei ihm an Bord muß Gil, seine Frau, in erster Linie für das Kind da sein.
»Ihr könnt unsere Seekarten haben«, sagt er nach einem Schweigen. »Du sagtest mir mal, daß ihr in Panama die Karten für den Pazifik kaufen wollt. Ihr habt doch Australien eingeplant?«
»Ja.«
»Gut, dann gebt ihr mir die Karten in Sydney zurück.«
»Das ist eine große Hilfe. Vielen Dank, Bryan. Wir hörten inzwischen, daß die Lieferung von Seekarten in Panama äußerst ungewiß sein soll – übrigens auch in der US-Canal-Zone.«
»Kommt morgen ’rüber und sucht euch aus, was ihr braucht. Ihr spart ’ne Menge Porto.«
»Und Zeit, wenn das alles von England kommen muß.«
Am nächsten Tag holten wir uns fast 100 Seekarten, Spezialkarten und dazugehörige Handbücher von unseren Freunden. Unsere Freude wurde nur getrübt durch ihre Niedergeschlagenheit über das vorzeitige Ende ihrer Pläne.
English Harbour gab die erinnerungsreiche Kulisse zu unseren Vorbereitungsarbeiten für die Karibische See. Wenn ich in der Takelage hing, blickte ich oft zu den alten Hafengebäuden hinüber.
Hier waren die Großsegler eines Volkes repariert und ausgerüstet worden, das wie kein anderes die Weltmeere befuhr und Männer groß werden ließ, die kühl, sachlich und wirklichkeitsnah die Hohe Schule der Segelschiffahrt entwickelten.
Es lebt in den seefahrenden Völkern die Erinnerung an die Kunst dieser Segelschiffahrt und ebenso der Wunsch, sie nicht zu verlieren – sie, die dem Industrieunternehmen der Maschinenfahrt weichen mußte, nachdem sie in Jahrhunderten unter schwersten Erfahrungen entwickelt wurde. So segelt auf jeder Jacht ein Bruchteil Erinnerung mit, auch ein Bruchteil Gewissen. Es weiß um die Vollkommenheit, die der Mensch mit seinen großen Segelschiffen erreichte: mit eigenem Geschick Materie zu bilden und in eigener Entscheidung den Gesetzen der Natur zu gehorchen. Das ist der Einklang, den der wagende, sich mit dieser Erde auseinandersetzende Mensch erreichen muß – der Einklang von Materie und Geist und Freiheit. Ein Weg dorthin führt auf kleiner Jacht mit richtigem Kurs über die Weltmeere.
Читать дальше