Mark Twain
Tom Sawyers Abenteuer und Streiche
(S. L. Clemens)
Deutsche Übersetzung von Margarete Jacobi
Mit zweiundzwanzig Federzeichnungen von Max Kellerer
Saga
Tom Sawyers Abenteuer und Streiche Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1876, 2020 Mark Twain und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726642728
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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Die meisten der im Tom Sawyer erzählten Abenteuer sind wirklich vorgekommen. Eines oder zwei habe ich selbst erlebt, die anderen meine Schulkameraden. Huck Finn ist nach dem Leben gezeichnet, Tom Sawyer ebenfalls, jedoch mit dem Unterschied, dass in ihm die Charaktereigenschaften mehrerer Knaben vereinigt sind.
Hartfort 1876
Der Verfasser
„Tom!“
Keine Antwort.
„Tom!“
Tiefes Schweigen.
„Wo der Junge nun wieder stedt, möcht’ ich wissen. Du — Tom!“
Die alte Dame zog ihre Brille gegen die Nasenspitze herunter und starrte drüber weg im Zimmer herum, dann schob sie sie rasch wieder empor und spähte drunter her nach allen Seiten aus. Nun und nimmer würde sie die Brille so entweiht haben, dass sie durch die geheiligten Gläser hindurch nach solchem geringfügigen Gegenstand geschaut hätte, wie ein kleiner Junge einer ist. War es doch ihre Staatsbrille, der Stolz ihres Herzens, die sie sich nur der Zierde und Würde halber zugelegt, keineswegs zur Benutzung, — ebenso gut hätte sie durch ein paar Kochherdringe sehen können. Einen Moment lang schien sie verblüfft, da sie nichts entdecken konnte, dann ertönte wiederum ihre Stimme, nicht gerade ärgerlich, aber doch laut genug, um von der Umgebung, dem Zimmergerät nämlich, gehört zu werden: „Wart, wenn ich dich kriege, ich — —“
Sie beendete den Satz nicht, denn sie war inzwischen ans Bett heran getreten, unter welchem sie energisch mit dem Besen herumstöberte, was ihre ganze Kraft, all ihren Atem in Anspruch nahm. Trotz der Anstrengung förderte sie jedoch nichts zu Tage, als die alte Katze, die ob der Störung sehr entrüstet schien.
„So was wie den Jungen gibt’s nicht wieder!“
Sie trat unter die offene Haustüre und liess den Blick über die Tomaten und Kartoffeln schweifen, welche den Garten vorstellten! Kein Tom zu sehen! Jetzt erhob sich ihre Stimme zu einem Schall, der für eine ziemlich beträchtliche Entfernung berechnet war:
„Holla — du — To—om!“
Ein schwaches Geräusch hinter ihr veranlasste sie sich umzudrehen und zwar eben noch zu rechter Zeit, um einen kleinen, schmächtigen Jungen mit raschem Griff am Zipfel seiner Jacke zu erwischen und eine offenbar geplante Flucht zu verhindern.
„Na, natürlich! An die Speisekammer hätte ich denken müssen! Was hast du drinnen wieder angestellt?“
„Nichts.“
Nichts? Na, seh’ mal einer! Betracht’ mal deine Hände, he, und was klebt denn da um deinen Mund?“
„Das weiss ich doch nicht, Tante!“
„So, aber ich weiss es. Marmelade ist’s, du Schlingel, und gar nichts anderes. Hab’ ich dir nicht schon hundertmal gesagt, wenn du mir die nicht in Ruhe liessest, wollt’ ich dich ordentlich gerben? Was? Hast du’s vergessen? Reich’ mir mal das Stöckchen da!“
Schon schwebte die Gerte in der Luft, die Gefahr war dringend.
„Himmel, sieh doch mal hinter dich, Tante!“
Die alte Dame fuhr herum, wie von der Tarantel gestochen und packte instinktiv ihre Röcke, um sie in Sicherheit zu bringen. Gleichzeitig war der Junge mit einem Satz aus ihrem Bereich, kletterte wie ein Eichkätzchen über den hohen Bretterzaun und war im nächsten Moment verschwunden. Tante Polly sah ihm einen Augenblick verdutzt, wortlos nach, dann brach sie in leises Lachen aus.
„Hol’ den Jungen der und jener! Kann ich denn nie gescheit werden? Hat er mir nicht schon Streiche genug gespielt, dass ich mich endlich einmal vor ihm in acht nehmen könnte! Aber, wahr ist’s, alte Narren sind die schlimmsten die’s gibt, und ein alter Pudel lernt keine neuen Kunststückchen mehr, heisst’s schon im Sprichwort. Wie soll man aber auch wissen, was der Junge im Schild führt, wenn’s jeden Tag was andres ist! Weiss der Bengel doch genau, wie weit er bei mir gehen kann, bis ich wild werde, und ebenso gut weiss er, dass, wenn er mich durch irgend einen Kniff dazu bringen kann, eine Minute zu zögern, ehe ich zuhaue, oder wenn ich gar lachen muss, es aus und vorbei ist mit den Prügeln. Weiss Gott, ich tu’ meine Pflicht nicht an dem Jungen. ,Wer sein Kind lieb hat, der züchtigt es’, heisst’s in der Bibel. Ich aber, ich — Sünde und Schande wird über uns kommen, über meinen Tom und mich, ich seh’s voraus, Herr, du mein Gott, ich seh’s kommen! Er steckt voller Satanspossen, aber, lieber Gott, er ist meiner toten Schwester einziger Junge und ich hab‘ nicht das Herz ihn zu Hauen. Jedesmal, wenn ich ihn durchlasse, zwickt mich mein Gewissen ganz grimmig und hab’ ich ihn einmal tüchtig vorgenommen, dann — ja dann will mir das alte, dumme Herz beinahe brechen. Ja, ja, der vom Weibe geborene Mensch ist arm und schwach, kurz nur währen seine Tage und sind voll Mühe und Trübsal, so sagt die hl. Schrift und wahrhaftig, es ist so! Heut’ wird sich der Bengel nun wohl nicht mehr blicken lassen, wird die Schule schwänzen, denk’ ich, und ich wird’ ihm wohl für morgen irgend eine Strafarbeit geben müssen. Ihn am Sonnabend, 1 wenn alle Jungen frei haben, arbeiten zu lassen, ist fürchterlich hart, namentlich für Tom, der die Arbeit mehr scheut, als irgend was sonst, aber ich muss meine Pflicht tun an dem Jungen, wenigstens einigermassen, ich muss, sonst bin ich sein Verderben!“
Tom, der, wie Tante Polly sehr richtig geraten, die Schule schwänzte, liess sich am Nachmittag nicht mehr blicken, sondern trieb sich draussen herum und vergnügte sich königlich dabei. Gegen Abend erschien er dann wieder, kaum zur rechten Zeit vor dem Abendessen, um Jim, dem kleinen Niggerjungen, helfen zu können das nötige Holz für den nächsten Tag klein zu machen. Dabei blieb ihm aber Zeit genug, Jim sein Abenteuer zu erzählen, während dieser neun Zehntel der Arbeit tat. Toms jüngerer Bruder, oder besser Halbbruder, Sidney, hatte seinen Teil am Werke, das Zusammenlesen der Holzspäne, schon besorgt. Er war ein fleissiger, ruhiger Junge, nicht so unbändig und abenteuerlustig wie Tom. Während dieser sich das Abendessen schmecken liess und dazwischen bei günstiger Gelegenheit Zuckerstückchen stibitzte, stellte Tante Polly ein, wie sie glaubte, äusserst schlaues und scharfes Kreuzverhör mit ihm an, um ihn zu verderbenbringenden Geständnissen zu verlocken. Wie so manche andere arglos-schlichte Seele glaubte sie an ihr Talent für die schwarze, geheimnispolle Kunst der Diplomatie. Es war der stolzeste Traum ihres kindlichen Herzens, und die allerdurchsichtigsten kleinen Kniffe, deren sie sich bediente, schienen ihr wahre Wunder an Schlauheit und List. So fragte sie jetzt:
„Tom, es war wohl ziemlich warm in der Schule?“
„Ja, Tante.“
„Sehr warm, nicht?“
„Ja, Tante.“
„Hast du nicht Lust gehabt schwimmen zu gehen?“
Wie ein warnender Blitz durchzuckte es Tom, — hatte sie Verdacht? Er suchte in ihrem Gesichte zu lesen, das verriet nichts. So sagte er:
„N—ein, Tante, — das heisst nicht viel.“
Die alte Dame streckte die Hand nach Toms Hemdkragen aus, befühlte den und meinte:
„Jetzt ist dir’s doch nicht mehr zu warm, oder?“
Und dabei bildete sie sich ein, bildete sich wirklich und wahrhaftig ein, sie habe den trockenen Zustand besagten Hemdes entdeckt, ohne dass eine menschliche Seele ahne, worauf sie ziele. Tom aber wusste genau, woher der Wind wehte, so kam er der mutmasslich nächsten Wendung zuvor.
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