Erst Häppchen, dann Hiob.
Unsere feierfreudige Gang – ein Team aus schrulligen Individualisten, die der gruppenidentitätsfördernde Aldi-Champagner zu einer verschworenen Spaßvogeltruppe zusammenwachsen ließ. Alle, außer Kalkofen, dem wissenschaftlichem Windhund mit dem Sozialverhalten eines Pitbulls. Heute waren die Stimmen gedämpft, Lachen verebbte im Ansatz, die Anzüglichkeiten blieben aus. Ein Stimmungspegel wie beim Leichenschmaus, bevor Alkohol die Trauer in schrille Albernheit umschlagen lässt.
Ich wollte gerade mit dem Messer an mein Glas klopfen, als Frau Schröder, die dienstälteste Assistentin, im Nebenraum verschwand und mit einem Paket wiederkam. Aber noch bevor sie mit Räuspern fertig war und zum Sprechen ansetzen konnte, fiel Kalkofen ihr ins Wort: Lassen Sie mich mal«, und nahm das Geschenk an sich.
Kalkofen hatte mir schon einige Kongresstrips verdorben. Wenn er mitreiste, traute Kristina sich nicht heraus. Als dritter Mann in der Hierarchie war er schon lange scharf auf meine Position, vermutlich spekulierte er seit meiner Diagnose auf die Nachfolge.
»Lieber Kollege Starck«, begann er, distanzlos wie immer.
»Wir sind ja alle wahnsinnig froh, dass dies kein echtes Abschiedsgeschenk ist, und wir Sie hoffentlich schon bald, wohlbehalten wiedersehen«, flötete er mit kunsthonigklebriger Scheinheiligkeit.
»Wir wissen nicht, wohin Ihre Reise jetzt geht, aber wir wissen, dass Sie in Ihrer Jugend eine Vorliebe für Afrika hatten. Deshalb habe ich Ihnen dies hier im Namen des Teams besorgt.«
Unter dem Geschenkpapier mit den roten Herzen kam ein knallroter Rettungsrucksack hervor, ausgestattet mit allem, was zur professionellen Ersten Hilfe nötig ist. Während ich noch mit dem Geschenkpapier beschäftigt war, konnte ich Berger hinter mir flüstern hören: »Hat der Geizkragen bestimmt auf eBay ersteigert.«
Ich bedankte mich bei Herrn Privatdozent Doktor Kalkofen für die Reminiszenz an meine vergangene Jugend und betonte, wie schmeichelhaft ich es fand, dass man mir als Pathologen die Notfallversorgung noch zutraute.
Dann sah ich Kalkofen direkt an und prostete ihm zu. »Sie haben freundlicherweise Ihre Hoffnung bekundet, mich nach meinem Sabbatical wiederzusehen. Da werde ich Sie nicht enttäuschen.«
Kalkofens Blick flackerte, ich stellte mein Glas ab. »Gerüchte sind wie Ambrosia, sie wuchern wild und richten Unheil an. Deshalb fürs Protokoll: Zu Beginn meines Sabbaticals habe ich einen Routine-Gesundheitscheck absolviert, als Zufallsbefund wurde ein Prostatakarzinom des Stadiums T2NO diagnostiziert, Sie kennen die Prognose. Falls nicht, wäre dies eine gute Gelegenheit, nachzulesen. Ich werde mich demnächst leitliniengerecht therapieren lassen, und so wird meine Performance hier im Institut weder von der Erkrankung noch von der Therapie beeinflusst. Und damit wünsche ich uns, dass dieser Umtrunk jetzt endlich unbeschwert wird.«
Der Applaus war herzlich. Wieder ein Haken auf der Liste. Auch wenn die Leichtigkeit, die frühere Events so vergnüglich gemacht hatte, nicht wiederkehrte, kam zumindest in Leos Augen wieder ein bisschen Kobalt.
»Als Krebskranker darf man doch sicher ein bisschen zu spät kommen, solange man überhaupt noch kommt?«, fragte ich in der Hoffnung auf Milde, als ich, unpünktlich wie immer, im Restaurant eintraf.
»Imbécile! Du mieser Manipulator!«, murmelte Alex über ihrem Glas Champagner, das schon fast leer war, aber ihr Grummeln klang fast zärtlich. Ihre Vorliebe für französische Flüche war eine Reminiszenz an ihre gescheiterte Ehe mit einem belgischen Kriegskorrespondenten.
Wir küssten uns und ich genoss die Kühle ihrer Hand auf meiner Wange. Alex trug einen schmal geschnittenen, moosgrünen Hosenanzug aus Kaschmirseide, dazu Stiefeletten in passendem Grün mit schwarzen Streifen und Stiletto-Absätzen; sonst bevorzugte sie flache Schuhe oder Sneakers. Der neue Stufenhaarschnitt und ein leichtes Make-up zeichneten ihr Gesicht weicher, der Concealer, den sie mir vor Kurzem einvernehmlich entwendet hatte, kaschierte die Ringe unter ihren Augen.
»Du siehst hinreißend aus, ich finde, wir sollten noch mal Sex haben, bevor ich womöglich impotent werde.«
Alex grinste. »Das wär’s mir wert, schon um dein Gesicht zu sehen, wenn ich ja sage.«
»Begleite mich doch einfach auf meiner Reise, ich werfe mich in mein schärfstes Weiber-Outfit, dann ziehen wir durch alle Transkneipen.«
Obwohl Alex schon über Jahrzehnte meine Transvertraute war, hatte sie mich noch nie bei einem meiner Escapes als Kristina begleitet.
»Wird ja Zeit, dass du mich mal mitnimmst«, sagte sie so leichthin, dass es nicht ernst gemeint klang – aber auch nichts ausschloss. Ihr schalkhaftes Grinsen machte sie Jahrzehnte jünger und erinnerte mich an die Zeit unserer Studentenliebe, als ich ihr erstmals meine Transtendenzen gebeichtet hatte. Sie hatte das spannend gefunden und mich vorbehaltlos darin bestärkt, als Frau zu leben. Die Selbstverständlichkeit ihrer Akzeptanz hatte mich sogar hoffen lassen, sie kenne eine solche Disposition aus der eigenen Biografie, zumal sie auf Kindheitsfotos eher knabenhaft aussah. Auf meine Frage, ob sie sich je gewünscht hätte, ein Junge zu sein, hatte sie lachend den Kopf geschüttelt. Allenfalls hätte sie davon geträumt, erster weiblicher Häuptling eines wilden Indianerstammes zu werden – oder erste Kapitänin der männlichen Fußballnationalmannschaft.
In unserem sechsten Lebensjahrzehnt war ich eigentlich keinen Schritt weiter, noch immer gefangen in meinem sporadischen Doppelleben, von dem ich manchmal nicht mehr wusste, ob es nicht längst zum bloßen Liebäugeln mit einer Option geworden war, die ich gar nicht mehr ernsthaft anstrebte. Aber immerhin eine Option, über die ich selbst entscheiden konnte und die ich keinesfalls missen wollte. Bis kürzlich der Krebs in meinen Entscheidungsspielraum eingebrochen war und ihn einengte wie eine Würgepflanze. Und der damit die Bequemlichkeit zerschmetterte, mit der ich mich in einem nicht wirklich erfüllten, aber auch nicht unglücklichen – und mit regelmäßigen Escapes durchaus erträglichen Leben zurechtgekuschelt hatte.
Wir genossen die Vorspeise, klauten uns gegenseitig Froschschenkel und Entenstopfleber von den Tellern, aber irgendwann ließ sich die Frage des Abends nicht weiter hinauszögern: Ob ich mein Karzinom operieren oder bestrahlen lassen wollte. Ob die Reise anschließend meine Belohnung wäre.
»Wahrscheinlich bestrahlen, aber erst Reise und gleichzeitig antiandrogene Therapie.«
»Das ist aber nicht das, was dir Wolff empfohlen hat?«
»Du hast ja die Leitlinie gelesen, so kann man’s prinzipiell auch machen.«
Der Kellner servierte Blutwurst und Kalbsbäckchen, die mir einen kurzen Aufschub verschafften, bevor das eigentliche Thema zur Sprache kam. Nach einigen Minuten genießerischen Schweigens eröffnete Alex: »So, mein Lieber, Butter bei die Fische: Was deine Bereitschaft zum Coming-out betrifft, hat die Diagnose daran etwas verändert?«
Ich stach meine Gabel in ein Bäckchen. Schwierig. Einerseits: Wann, wenn nicht jetzt, wo es wenig zu verlieren gab? Sollte die Angst vor dem Tod nicht die Angst vor dem Coming-out pulverisieren? Eigentlich ja, allerdings nur im Kopf.
Alex nickte nachdenklich. Ich spülte das Bäckchen herunter. »Meinst du, man muss erst Krebs kriegen, um erwachsen zu werden?«
» Erwachsen ist man, wenn man sich hinter sich hat . Stand neulich in meinem Sprüchekalender.«
» Hinter sich klingt ja tröstlich für einen Krebskranken!«
Alex schüttelte den Kopf. » Sich hinter sich zu haben hat nichts mit Sterben zu tun, denn sterben kann man auch, ohne vorher erwachsen zu werden. Sich hinter sich zu haben könnte zum Beispiel bedeuten, dass es dich nicht mehr interessiert, was andere von dir denken. Oder von Kristina.«
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