Ypsilons Rache beschreibt ausschließlich Erfundenes.
Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Begebenheiten sind zufällig.
Erste Auflage 2021
©2021 Unken Verlag GmbH, Karlsruhe
Umschlag: Daniel Horowitz, Paris
Satz: Buch&media GmbH, München
Gesetzt aus der: Neuton und Segoe
Druck und Verarbeitung: CPI books GmbH, Leck
ISBN epub 978-3-949286-03-2
ISBN mobi 978-3-949286-04-9
www.unken-verlag.de
Solange man lebt, ist nichts endgültig. Arnold Zweig
Berlin
Diesmal sah sie mir nicht in die Augen.
»Professor Wolff ist gleich bei Ihnen«, begrüßte mich die Chefsekretärin der urologischen Klinik. Minuten später federte Wolff in das Sprechzimmer, ließ seine massige Gestalt in den ledergenoppten Drehsessel fallen und goss stilles Wasser aus einer Kristallkaraffe in zwei Gläser. Eines reichte er mir über den Tisch.
»Leider ist es keine Prostatitis, sondern doch ein Karzinom.« Ich griff nach dem Glas und setzte es ab.
»Passt ja zum Wetter«, hörte ich mich sagen und starrte auf die fetten grauen Tropfen, die an der Fensterscheibe zerplatzten.
»Wetter geht vorbei«, murmelte Wolff und klickte im Rechner auf Drucken.
»Danke, sehr tröstlich, Leben geht auch vorbei.«
Ich starrte weiter auf das Fenster und die trommelnden Tropfen. Der Laserdrucker begann zu schnurren.
»Sorry, war nicht so gemeint«, brummte Wolff und reichte mir den Pathologiebericht.
Dort stand: Prostatastanzbiopsie Prof. Dr. Kristian Starck, Adenokarzinom der Prostata cT2c, Graduierung 3 (ISUP), den Rest konnte ich ohne Brille nicht lesen, war auch egal. Allerdings amüsierte mich die handschriftliche Notiz: Achtung, Pat. ist Pathologe!!
»Die Konkurrenz schreibt immer so unprofessionelle Befunde«, kommentierte ich.
Wolff knurrte: »Nächstes Mal lasse ich die Biopsiepräparate direkt an dich schicken!«
»Wie kommst du darauf, dass nächstes Mal nicht schon vorbei ist?«
»Deine Ironie ist destruktiv. Lass uns das Gespräch in eine zielführende Richtung lenken.«
»Sehr wohl, Boss, führe mich, oh Herr, und lenke!«
Erstaunlich, wie gut es sich anfühlte, meinen alten Studienfreund rüde zu behandeln. Wolff straffte die Schultern, zog seinen beschichteten Sixpack-Bauch ein und schaltete die Stimme in den Trostmodus. »Du siehst, dein Tumor ist auf die Prostata beschränkt, das heißt, wir haben zwei Therapieoptionen und eine realistische Chance.«
Wolffs persönliche Empfehlung war eine radikale Operation, bei der Prostata und Lymphknoten entfernt würden; nicht ohne Stolz fügte er hinzu, der neue Da-Vinci-Roboter ermögliche eine besonders schonende Operationstechnik.
Ich konnte kaum folgen und sah mich schon wehrlos und winzig auf den OP-Tisch geschnallt, während das Robotermonster sein Messer an einem vielgliedrigen Stahlarm in computergesteuertem Winkel in meinen Unterleib rammte.
Als Kind entdeckte ich den Dichotomschalter und nutzte ihn, wenn Ängste mich überwältigten, zum Beispiel vor Vaters Strafe. Ich lege den Schalter um und trete heraus aus dem furchtsamen Selbst, betrachte wie durch ein Teleskop, was dem Menschen Starck geschieht. So rückt das Gegenwärtige in weite Distanz, der Schmerz wird betäubt, die Angst vaporisiert. Ich sehe den anderen Starck in perfekter Pseudo-Coolness, wie Sean Penn in Death Sentence – gegenüber dem massigen Uro-Boss, eigentlich ein abgebrühter Macho, heute aber mit Schweißfilm auf der Oberlippe, obwohl für ihn die Verkündung potenzieller Todesurteile zum Alltag gehört, wie für den Pathologen. Nichts Bedrohliches. Selbst der Da-Vinci-Roboter kommt plötzlich daher wie E. T., mit großen, freundlichen Kinderaugen.
Wolffs Erläuterungen rauschten weiter an mir vorbei. Seltener Harninkontinenz, entscheidender Vorteil sei, dass man die OP sofort terminieren könne, wohingegen vor Beginn einer Bestrahlung drei Monate antiandrogene Therapie fällig wären. Mit Nebenwirkungen, beispielsweise Feminisierung der Gestalt und Brustschwellung.
»Super, kann ich so eine Hormontherapie auch vor der Operation machen?«
Wolff sah mich entgeistert an. »Neoadjuvant? Wozu? Das wäre doppelt gemoppelt, und Studien besagen, dass das nichts bringt. Warum solltest du dir also so was antun?«
»Weil ich Zeit brauche – für mein Sabbatical und mein Buch, einige Dinge, die ich schon viel zu lange vor mir her schiebe …«
Bei den letzten Worten geriet ich ins Nuscheln, meine Hände sanken auf die Lehne.
»Du musst dich nicht heute entscheiden«, beruhigte mich Wolff, »denk in Ruhe über alles nach! Hast du noch Fragen zur OP?«
Eine fette Fliege krabbelte über die nackte Brust der androgynen Südseeinsulanerin von Gauguins verlorenem Paradies.
»Kann man nach einer Prostatektomie eigentlich noch eine geschlechtsangleichende Operation durchführen?«, hörte ich mich fragen, biss mir auf die Zunge und schob hinterher: »War nur Scherz.«
Irritiert von meinem Blick, der an ihm vorbeiging, drehte Wolff den Kopf zum Bild, um jetzt selbst das Insekt zu beobachten, wie es die Brustwarze der jungen Frau umrundete, die ihrerseits völlig ungerührt am Insulaner vorbeistarrte. Als die Fliege abhob, schüttelte Wolff den Kopf. »Komische Frage. Ich weiß nicht, ob nach Prostatektomie eine Geschlechtsumwandlung machbar ist, soweit ich weiß, braucht man die Prostata für die Lubrikation.«
»Geschlechtsangleichung«, korrigierte ich reflexhaft.
Wolff trommelte mit Zeige- und Mittelfingern auf der Tischplatte. »Wie auch immer. Sag mal, bist du ein bisschen neben der Spur – oder ist das mal wieder dein bizarrer Humor? Wie kommst du auf den Quatsch?«
»Nur so, ich habe neulich einen Artikel über Prostatakarzinome bei Transgenderfrauen gelesen.«
Wolff verdrehte die Augen, schüttelte den Kopf, sah auf die Uhr und stand auf. »Nicht mein Metier, aber um deine Prostata kümmere ich mich gern. Du weißt, ich bin immer für dich da, ruf mich an, wenn du dich entschieden hast. Kannst ja vorher noch mit dem Strahlentherapeuten sprechen.«
Zum Abschied schüttelten wir uns die Hand, was die Gefühlsschwere des Augenblicks nicht ausreichend löste. Also umarmten wir uns wie schwitzende Boxer, mit gefühlt einem halben Meter Abstand, und klopften uns dabei kräftig auf die Schultern.
Mit beschlagener Brille lief ich durch den peitschenden Regen, setzte mich klatschnass ins Coupé und fuhr im Schritttempo durch den hauptstädtischen Berufsverkehr in Richtung Spreebogen.
Beim Aufschließen der Wohnungstür wappnete ich mich für die Erkenntnis, dass nun nichts mehr so sein würde wie zuvor. Die dazu passende Empfindung stellte sich nicht ein. Im Spiegel war die graue Mähne regensträhnig, ansonsten sah ich mir nichts an. Im Kühlschrank herrschte Ebbe, für Rotwein war es zu früh, für härtere Sachen der Magen zu leer. Ich schälte mich aus den nassen Klamotten und verließ die Wohnung in Lieblingsjeans, Hoodie und Anorak mit dem unbestimmten Wunsch, irgendetwas anderes zu tun als sonst.
Der Regen löcherte die Spree wie ein Schrotgewehr. Die Straße der Erinnerung war fast menschenleer, nur ein einsamer Jogger trabte vorbei an Edith Steins zersplittertem Gesicht, am schwermütigen Blick von Käthe Kollwitz und dem trotzigen Georg Elser. Bei jeder Statue klopfte er, ohne seinen Lauf zu unterbrechen, zweimal mit den Knöcheln auf den Sockel, Ludwig Erhard ließ er aus.
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