Aspekte der Kanzlerverehrung reichten von politischen Genealogien (Lueger, Seipel) über den Helden und kaiserlichen Soldaten, die Identifizierung mit Christus, Christkönig und dem hl. Engelbert, das Bauernkind als „Sohn der Scholle“ bis hin zum „Führer mit menschlichem Antlitz“, der auf Fotos und Grafiken – anders als der unnahbar erscheinende Schuschnigg – gerne mit einem liebenswürdigen Lächeln abgebildet wurde. Lucile Dreidemy hat darauf hingewiesen, dass ein wesentliches Merkmal des Dollfußkults auf Identifikation und Sympathie beruhte und nicht, wie bei Hitler und Mussolini, auf der Evozierung von Furcht. 212Die Bandbreite der Darstellungen entsprach den zahlreichen Facetten der Person Dollfuß, die für einen Denkmalkult wie geschaffen schien.
Die Stadt Klosterneuburg rühmte sich des ersten Dollfußdenkmals nach dessen Tod in Österreich, einer Plakette, die den Kanzler in der Uniform der Kaiserjäger zeigte. Darunter stand zu lesen: „Ich wollte ja nur den Frieden, den anderen möge der Herrgott vergeben“ 213– die angeblich letzten Worte des Kanzlers, in deutlicher Anspielung an Christi letzte Worte am Kreuz und angeblich auch die letzten Worte des hl. Engelbert, der ebenfalls von seinen Gegnern ermordet worden war. 214
1935 wurde Dollfuß ein Denkmal in Form seines Namenspatrons, eines nie offiziell heiliggesprochenen Kölner Bischofs, gesetzt. An einer Kehre der Wiener Höhenstraße nahe Grinzing, wo Dollfuß 1934 den ersten Spatenstich für sein Prestigeprojekt gemacht hatte, wurde ein Denkmal nach Entwurf von Alexander Popp und Rudolf Schmidt errichtet ( Abbildung 35). Popps Steinsockel ist bis heute erhalten (siehe dazu das Kapitel Infrastruktur). Die Figur von Rudolf Schmidt war aus einem stelenförmigen stehenden Steinblock herausgearbeitet und zeigte den mediävalisierend dargestellten Bischof in Art einer Liegegrabfigur, 215allerdings vertikal aufgestellt. Zu seinen Füßen befand sich ein Drache, den der Heilige mit seinem Bischofsstab durchbohrt, ein Attribut, das nicht zur kanonischen Darstellung des hl. Engelbert gehört, das aber viel Assoziationsspielraum gibt: Der den Drachen tötende hl. Georg, die gegenreformatische Madonna, die der Schlange stellvertretend für das Böse den Kopf zertritt, liegen nahe, aber auch die Identifizierung des Drachen mit dem politischen Gegner. Die blockgebundene Form der Skulptur assoziiert passend zum umgebenden Wienerwald Bildstöcke oder Wegkapellen, wie sie im ländlichen Bereich üblich waren. Der erste Bauabschnitt der Straße, zu deren Patron St. Engelbert ernannt wurde, mitsamt dem Denkmal wurde am 16. Oktober 1935 eröffnet. 216

Abbildung 35: Alexander Popp/Rudolf Schmidt, Dollfußdenkmal an der Höhenstraße bei der Eröffnung (APA Picture Desk/IMAGNO)
In den Städten wurden einige monumentale Dollfußdenkmäler auf zentralen Plätzen aufgestellt, etwa in St. Pölten und Graz. Das St. Pöltner Denkmal ( Abbildung 36) bestand aus einem Stufensockel mit einer hohen, kantigen Stele mit Rechteckgrundriss, an deren Schmalseite eine vergleichsweise kleine Porträtdarstellung angebracht war, so dass der architektonische Denkmalcharakter dominierte. Das Denkmal wurde von Rudolf Wondracek entworfen und ebenso wie das Grazer Dollfußdenkmal bereits am 12. März 1938 abgerissen. Das Grazer Denkmal war ebenfalls eine hohe, schlanke Stele mit einer bekrönenden überlebensgroßen Porträtbüste von Gustinus Ambrosi. 217

Abbildung 36: Rudolf Wondracek, Dollfußdenkmal St. Pölten (zerstört; www.austria-forum.org.)
Eine architektonische, oft sehr monumentale Sonderform des Dollfußmals waren die sogenannten Dollfußkreuze, die einerseits als Grabkreuze gedeutet werden können, andererseits unausgesprochen eine Verbindung zwischen dem „Opfertod“ Dollfuß’ und dem Tod Christi am Kreuz herstellten. In diesem Zusammenhang sind wiederum Dollfuß’ angebliche letzte Worte von Bedeutung. Das monumentale Kreuz an der Packer Höhenstraße (Entwurf Wilhelm Göser, Höhe acht Meter 218) wirkte mit seiner schlanken Basis, dem nach oben hin verbreitertem Schaft und damit der Umkehrung der traditionellen Proportionsverhältnisse relativ modern. Der Querbalken trug die Inschrift „Christus regnat“, an der Basis war ein Wappenrelief eingearbeitet. Dollfußkreuze waren weit verbreitet, vielleicht auch, weil sie auch preiswert aus Holz gefertigt werden konnten. Es gab solche Kreuze zum Beispiel in Salzburg, auf dem Braunsberg nahe Hainburg, bei Werfenweng, in Klosterneuburg usw. Sogar die österreichische Siedlung Babenberg in Brasilien leistete sich ihr eigenes Dollfußkreuz. 219
Die Überziehung Österreichs mit Dollfußdenkmälern unterschiedlichster künstlerischer Qualität war 1936 sogar dem „Profil“ zu viel. Angesichts von zweifelhaften Dollfußbüsten aus Zuckerguss und unfreiwillig komischen Schuschniggporträts in Marzipan und Schokolade ( Abbildung 37) donnerte das ansonsten regimetreue Organ der Architektenvereinigung entschlossen: „Fort mit dem patriotischen Kitsch!“ 220

Abbildung 37: Dollfuß- und Schuschniggdarstellungen aus Marzipan, Zuckerguss und Schokolade (Profil 1936, 568)
Nationales Kanzlergedenken: Dollfußdenkmal oder „Dollfuß-Führerschule“?
Bald wurde der Wunsch nach einem größeren und gesamtnationalen Dollfußdenkmal laut. Die Bundesregierung richtete Spendenaufrufe an die Bevölkerung. Bald polarisierte sich die Diskussion: Sollte ein klassisches Monument errichtet werden oder ein Forum, das verschiedene Funktionen in einem großen Komplex bündeln konnte? Kanzler Schuschnigg war ein Verfechter der letzteren Version. 221Ein Vorschlag für einen gigantischen Memorialkomplex mit Denkmal, Kapelle und Ausbildungsstätten auf dem Kahlen- oder Leopoldsberg wurde nur kurz thematisiert. 222Die beiden Berge waren bereits zuvor mehrfach als Standorte projektierter Denkmalbauten im Gespräch gewesen. 223
Weitere Anregungen datieren aus 1935, als die Witwe Alwine Dollfuß ein Denkmal im Umkreis des Bundeskanzleramts vorschlug. Über Form und Typ – Kapelle, Stadtbild, Porträt – sollte ein künstlerischer Ausschuss entscheiden, der einen Wettbewerb für alle österreichischen Künstler auszuschreiben hatte. 224Dieses Denkmal war zur wandfesten Anbringung an der Fassade des Bundeskanzleramts gedacht. Der Wettbewerb brachte kein Siegerprojekt; zwei zweite Preise gingen an Ernst Lichtblau und Peydl/Schilhab, die ihre Entwürfe überarbeiten sollten. Nicht zuletzt wegen der Schwierigkeiten einer Anbringung am Gebäude wurde das Projekt schließlich fallen gelassen. 225
In der Folge wurden Denkmalidee und Projekt eines Dollfuß gewidmeten Infrastrukturbaus auf zwei Standorte aufgeteilt. Die „Dollfuß-Führerschule“ sollte nach einigem Hin und Her in stark reduzierter Form im Schönbrunner Fasangarten gebaut werden (siehe dazu Seite 70), das Denkmal war für den zentralen Ballhausplatz vorgesehen.
Das Dollfuß-Denkmal auf dem Ballhausplatz
Im Jahr 1936 wurde für ein Dollfußdenkmal auf dem Ballhausplatz durch das Denkmalkomitee der Vaterländischen Front ein beschränkten Wettbewerb ausgeschrieben, zu dem die Architekten Clemens Holzmeister, Eugen Kastner/Fritz Waage, Hermann Stiegholzer/Herbert Kastinger und Josef Heinzle/Stefan Simony eingeladen wurden. 226Der Ballhausplatz mit dem Bundeskanzleramt als Regierungssitz und mit der kaiserlichen Burg wurde als Zentrum der Macht, als „österreichischster aller Plätze“, so Kanzler Schuschnigg, gesehen. 227Aus den drei Entwürfen wählte nicht etwa eine Jury, sondern „der Frontführer [Schuschnigg, d. A.]“ selbst – weder das zurückhaltende Projekt von Heinzle/Simony noch die asymmetrische, moderne Lösung von Kastner & Waage, sondern das konservative und symmetrische Projekt von Clemens Holzmeister mit seinem sepulkralen Charakter ( Abbildung 38).
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