»Du zerstörst deine Familie«, sagt er.
»Nein«, sage ich, »ich versuche sie zu retten.«
»Wovor, Yvonne?«
»Vor der Apathie.«
Innenansicht einer ungewöhnlichen Trennung.
Yvonne und Jonas sind ein gutes Paar. Sie kümmern sich liebevoll um ihre Kinder, sie haben einen großen Freundeskreis, sie verstehen sich, beide sind berufstätig, teilen sich die Aufgaben. Warum Yvonne immer mehr das lähmende Gefühl hat, nur noch zu funktionieren, ist ihr selbst rätselhaft. Nur die Gewissheit, dass es so nicht weitergehen kann, die wird immer stärker.
Nach einem Fest geht sie mit einem der jüngeren Gäste noch in eine Bar. Und schläft mit ihm. Aber warum musste sie es ihrem Mann erzählen? Warum dann ihre Familie verlassen? Warum etwas zerstören, was sie perfekt aufgebaut hat? Um dem wunschlosen Unglück, der stillen Zerstörung zuvorzukommen, die man oft erst bemerkt, wenn es zu spät ist?
Julia Jessen erzählt schmerzhaft genau von Konflikten, in denen viele sich wiederfinden, auch wenn sich nur wenige so radikal damit konfrontieren. Und sie erzählt davon, wie eine Familie wieder zusammenfindet, auch wenn es nicht mehr so ist, wie es mal war.
Julia Jessen, geb. 1974, hat Literatur studiert und eine Ausbildung als Schauspielerin gemacht. Sie arbeitete zehn Jahre für Film und Fernsehen, spielte in mehreren Theaterproduktionen und unterrichtete an verschiedenen Schauspielschulen. 2010 gründete sie das »Kurswerk« in Hamburg für Schauspielunterricht und Persönlichkeits- und Präsenztraining. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Zuletzt erschien bei Kunstmann ihr Roman „Alles wird hell“.
Julia Jessen
DIE ARCHITEKTUR DES KNOTENS
Roman
Verlag Antje Kunstmann
Diese Geschichte ist der Zukunft gewidmet.
FLIEHKRAFT
(Zentrifugalkraft)
bezeichnet in der klassischen Mechanik
den Widerstand, den der Körper nach dem Trägheitsprinzip
der Änderung seiner Bewegungsrichtung entgegensetzt,
wenn er einer gekrümmten Bahn folgt
POESIE
TENSION
(Druck)
ist ein Maß für den Widerstand,
den Materie einer Verkleinerung des
zur Verfügung stehenden Raumes
entgegensetzt
GESELLSCHAFT
GRAVITATION
Gravitationskraft
(Schwere)
äußert sich in der gegenseitigen
Anziehung von Massen
LIEBE
DIE JUNGS BAUEN EINE STADT.Seit Stunden schon. Akribisch, hochkonzentriert und mit einer Hingabe, die mich fasziniert im Türrahmen des Kinderzimmers gefangen hält. Sie haben die Vorhänge zugezogen. Durch die dünnen Vorhänge fällt das Licht der Oktobersonne ins Zimmer, schwach und lindgrün. Es ist schon wieder Oktober.
Die Luft ist wie aufgeladen von der fieberhaften Stille und der ungewohnten Einigkeit der beiden Jungs. John ist noch immer in Unterhemd und Unterhose, ich beobachte, wie er, mit rundem Rücken am Boden sitzend, den Kopf tief über die arbeitenden Hände geneigt, geduldig kleine, krümelige Stückchen von der Spitze einer braunen Wachsmalkreide schabt. Mika steht, mit in die Seiten gestemmten Armen, neben seinem großen Bruder, ihn keine Sekunde aus den Augen lassend. Sie scheinen eine klare Vorstellung zu haben von der Stadt, die sie bauen. Sie reden kaum ein Wort miteinander.
Kleine, braune Krümelwürmer fallen von dem braunen Wachsstift auf den Boden und bilden lose Häufchen. John scheint fertig zu sein, er nickt Mika zufrieden zu.
Mika schiebt die braunen Krümel auf ein Blatt Papier und trägt sie vorsichtig zu dem kleinen grünen Handtuch, das in der Mitte der Stadt liegt. Dort stehen Bäume und eine Rutsche, unterschiedliche kleine Plastik-Menschen liegen sorgsam verteilt auf dem Rücken, einer von ihnen liest sogar ein Buch. Ein Park.
Es gibt mehrere Hunde. Mika verteilt die braunen Krümelhaufen auf dem Handtuch und vor jeden Haufen stellt er einen Hund. Er lächelt zufrieden, als er damit fertig ist.
Hundekacke, denke ich. Die Jungs haben sogar Hundekacke gemacht.
Schon gleich nach dem Aufstehen habe ich die beiden Kurven und Linien auf weißes Papier zeichnen sehen. Ich habe nicht gefragt, wofür das ist, war in Gedanken woanders. Mein Blick wandert durch die Stadt. Sie haben fast alles an Spielzeug verbaut. Playmobil, Legoautos, Eisenbahnbrücken, Gebäude aus Bauklötzen, Zäune aus Fisherprice, das weiße Papier haben sie mit Tesafilm zu einem Straßennetz zusammengeklebt, es gibt Ampeln, Schranken, ich sehe sogar einen Zebrastreifen. Es ist perfekt.
Was ist das für eine Welt, die sie da gebaut haben? Ich betrachte die Horde Gummi-Neandertaler, die mit Fackeln, gefolgt von einem Rudel Wölfe, den Zebrastreifen überquert. Ein Playmobilpolizist regelt den Verkehr mit einem Maschinengewehr. Merkwürdiges Bild.
Mitten auf dem Zebrastreifen liegt eine rotbeschürzte Playmobilfrau mit einem Einkaufskorb in der Hand. Sie ist vornübergefallen und liegt dort mit Hintern in der Luft. Irgendwie hat das was Würdeloses. Zusammengebrochen, denke ich.
Auf der anderen Straßenseite, auf einem umgedrehten Schuhkarton, entdecke ich unseren Holzjesus aus der Weihnachtskiste. Er steht auf dem goldenen Playmobiltisch, der zum Ritterschloss gehört, vor ihm, auf einer Ansammlung von Stühlen, sitzen Playmobilkinder, Müllmänner, Prinzessinnen und Ritter, regungslos und alle mit ihren steifen, nach vorn gestreckten Plastikarmen. Auf ihren hochgeklappten Beinen liegen Papierschnipsel … Hefte? Bücher? Denke, das ist wohl die Schule. Warum haben sie Jesus auf den Tisch gestellt? Sie hätten ihn doch auch dahinterstellen können.
Jesus trägt an einem seiner ausgestreckten Holzarme eine kleine Tasche. Lehrer haben Taschen, mit lauter wichtigen Büchern, das kennen sie von mir.
Warum nehmen sie überhaupt Jesus als Lehrer, frage ich mich. Warum haben sie keinen Ninja Turtle genommen?
Auf ungewollte Weise haben sie ein seltsam richtiges Abbild der Welt gebaut, denke ich, während mein Blick weiter durch die Stadt wandert.
Bis jetzt habe ich es geschafft, mich still zu verhalten, obwohl das nicht gerade meine Stärke ist. Super Stadt, Jungs. Toll, dass ihr zusammen spielt. War beides schon auf meinen Lippen. Hab beides wieder runtergeschluckt.
Sie machen nicht den Eindruck, als bräuchten sie meine Zustimmung.
Beim Anblick ihrer schmalen Schultern und Hüften, der nackten Füße, der sichtbaren Hingabe, die ihre Körper ausdrücken, durchläuft mich etwas Zärtliches.
Das ist alles mal aus mir rausgekrochen, denke ich.
In letzter Zeit sind die Gedanken in meinem Kopf sehr laut geworden. Ich höre sie laut und deutlich, so als würden sie zu mir sprechen. Mein Körper steht wie eingefroren im Türrahmen. So angespannt, dass es mir schwerfällt einzuatmen. Versuche, mich wieder auf die Kinder zu konzentrieren. Warum geh ich nicht einfach weg?
Mika ruft John immer mal wieder ein paar Ideen zu und seine aufgeregten Hände wedeln dabei durch die Luft. Ideen, die John gönnerhaft, mit leichtem Kopfnicken entgegennimmt, dann aber ignoriert. Jetzt tritt er einen Schritt zurück und Mikas Arme sinken herab. Ich versuche normal zu atmen.
Die Stadt ist fertig.
Ich folge ihren prüfenden Blicken. John nickt zwischendurch vor sich hin, als würde er etwas endgültig absegnen, seine Lippen sind dabei leicht gekräuselt.
Was denken sie, was die Welt ist?
In allen Häusern gibt es Tische. Und immer eine Familie. Eine Familie hat in ihrer Welt offensichtlich aus vier Leuten zu bestehen, so kennen sie es. In jedem Haus-Kasten vier.
Auf den Tischen stehen Teller und Schüsseln, darauf liegen Fische, Brötchen und Miniaturobst. Schon wieder eine rot bekleidete Playmobilfrau. Sie balanciert einen Kuchen auf ihren ausgestreckten steifen Armen. Natürlich, denke ich. Da ist sie wieder.
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