So wütend hatte ich meinen Bruder noch nie erlebt. Nicht mal, als wir blutüberströmt aus Vesteria zurückgekommen waren oder ich meine Magie gegen Minister Laurenti eingesetzt hatte. Aber ich konnte seine Wut durchaus verstehen und ich war darauf vorbereitet. Ich würde nicht zulassen, dass der heutige Tag einen Rückschritt für uns bedeutete.
»Es tut mir leid.«
»Wie kannst du … warte, was? «
»Es tut mir leid«, wiederholte ich leise, »ich weiß, dass du dir Sorgen gemacht hast, Nick, aber ich hatte etwas Wichtiges zu erledigen und das musste ich alleine tun.«
»Alina und Olli wussten davon!«
»Und Duncan«, fügte Olli wenig hilfreich hinzu.
»Warum?«
»Ich wusste, dass du versuchen würdest mich aufzuhalten.«
»Zu Recht!«
»Wahrscheinlich, ja, aber dennoch musste es getan werden.«
»Vertrau deiner Schwester, Nick.«
Nick warf uns einen ungläubigen Blick zu. »Ich schwöre, manchmal macht ihr beiden mir Angst.«
»Es wird nicht wieder vorkommen«, versprach ich ihm, die Finger hinter meinem Rücken überkreuzt. Natürlich konnte ich so etwas nicht wirklich versprechen. Ich würde alles tun, was nötig war, um mein Ziel zu erreichen.
»Woher weißt du es?«, fragte ich ihn interessiert.
»Alina ist eingeknickt«, antwortete er beiläufig. Ah. Alina war also unsere undichte Stelle. Allerdings konnte ich es meiner besten Freundin nicht verübeln. Sie liebte meinen Bruder seit einer halben Ewigkeit. Ich verstand, warum sie ihn nicht hatte anlügen wollen.
»Weiß Lucan es?«
»Nein.«
Nick musterte mich wenig begeistert.
»Dann solltest du duschen, und zwar gründlich. Ansonsten haben wir es gleich mit einem rasenden Assassinen zu tun. Du stinkst meilenweit nach Vesteria und Drake Careus.«
»Ich dachte, du glaubst nicht daran, dass zwischen Lucan und mir etwas sein könnte?«
»Glauben, hoffen, keine Ahnung.« Mein Bruder zuckte mit den Schultern. »Aber eins weiß ich, ich habe absolut keine Lust, diese Theorie mit einem Krieger wie Lucan Vale zu testen. Also gehst du besser.«
Nicks Worte waren harsch, aber ich hatte sie verdient. Immerhin hatte ich ihn belogen. Und ich hielt gewisse Dinge vor ihm geheim. Ebenso wie Olli. Der warf mir einen raschen Blick zu, den ich nur allzu gut selber kannte. Zweifel, Notwendigkeit und eine grimmige Entschlossenheit standen dem Engel ins Gesicht geschrieben. Es war ja nicht so, dass es uns Spaß machte, unser Umfeld im Dunkeln zu lassen oder zu belügen. Aber Scio hatte mir geraten, so wenig Leute wie möglich in meine Pläne einzuweihen. Die Anderswelt war ein gefährlicher Ort. Das war Fakt. Also taten wir gut daran, extra vorsichtig zu sein.
»Willst du nicht wissen, warum ich in Vesteria war?«
»Nein. Ich versuche, mein Versprechen dir gegenüber zu halten und habe Vertrauen. Auch, wenn ich dich im Moment nur anschreien möchte.«
»Ich liebe dich, Nick. Das weißt du, oder?«
Mein Bruder seufzte. »Ich weiß.« Er drückte mich kurz und fest an sich. »Ich liebe dich auch, Schwester. Aber jetzt geh duschen. Du riechst nach Tier.«
KAPITEL 6
Ein wenig erleichtertet verabschiedete ich mich und schlich mich möglichst lautlos in den ersten Stock hinauf zu meiner Suite. Ich schlüpfte durch die Tür und atmete auf. Keine Spur von Lucan, King oder den anderen. Der Balance sei Dank. Lächelnd drehte ich mich um und erstarrte mitten in der Bewegung.
»Hast du ernsthaft geglaubt, ich merke es nicht?«, fragte Lucan und ein Schatten huschte über das Gesicht des Assassinen.
Betrug.
Innerlich fluchend trat ich mit wild klopfendem Herzen näher. Lucan sah … betrogen aus. Verletzt. Wütend.
»Ich …«
»Hast du ernsthaft geglaubt«, wiederholte er, »dass ich es nicht spüren würde, wenn du diese Welt verlässt? Wenn du durch ein Portal reist?« Sein massiver Körper erhob sich von meinem Bett. »In der Sekunde, in der ich es fühlte, kam ich zurück. Und stell dir meine Überraschung vor«, scherzte er humorlos, »als mein eigener Sohn mich darüber aufklärte, wo genau du bist. Alleine. Ohne Wachen. Ohne Magie und ohne mich !«
»Lucan, ich …«
»Und warum«, unterbrach er mich erneut mit vor Aggression blitzenden Augen, »riecht jeder Zentimeter meiner Gefährtin nach Drake Careus, frage ich dich?«
Wut mischte sich bei seinen letzten Worten in meine eigenen, aufgewühlten Gefühle.
»Jetzt bin ich auf einmal wieder deine Gefährtin?«
»Lenk nicht vom Thema ab, Lilly!«
»Ich lenke nicht ab!«, rief ich, nicht weniger aufgebracht. »Aber ich bin immer nur dann deine Gefährtin, wenn es dir einen Vorteil verschafft. Oder wenn ich etwas mache, das dir missfällt. Und sonst? Wie hast du mich doch so charmant bezeichnet? Als Bürde? Ballast? Vielleicht kannst du dich mal entscheiden, Lucan. So langsam komme ich nicht mehr mit.«
Dieses verfluchte Alpha-Gehabe würde ich ihm nicht durchgehen lassen. Nicht, wenn er jedes Mal danach wieder einen Rückzieher machte. Ein weiterer Schatten tanzte über das harte Gesicht des Assassinen und ich erkannte, dass er kurz davor war, die Kontrolle über sein wahres Ich zu verlieren.
Für mich kein Problem, immerhin liebte ich seine wahre Gestalt. Die komplett transformierten, schwarzen Augen und die hohen, scharfen Wangenknochen. Ganz zu schweigen von den angedeuteten Fangzähnen, die Lucan als Herrscher der Assassinen wuchsen. Seine wahre Gestalt war furchteinflößend und wunderschön.
Lucans Nasenflügel bebten.
»Von einem Bett ins nächste, hm? Ist es das, was du willst, Prinzessin?«
»Sei nicht albern, Lucan!«
»Und warum rieche ich ihn dann überall an dir?«
Ich atmete tief durch, ehe ich mit der Wahrheit rausrückte. »Weil Drake mich geküsst hat.«
»Und du hast ihn gelassen?«
»Ja.«
Wütend wandte Lucan sich ab und ballte die Hände zu Fäusten.
»Aber ich kann es dir erklären, ich …«
»Bleib wo du bist, Prinzessin!« Mit einem Ausdruck in den Augen, den ich nicht deuten konnte, sah Lucan auf mich herab. »Ich kann nicht garantieren, was passiert, wenn du mich berührst.«
»Lucan, das ist albern. Du weißt, was ich für dich empfinde!«
»Weiß ich das, Prinzessin?«
»Oh nein, komm mir nicht so!« Trotz seiner Warnung trat ich näher. »Komm mir jetzt nicht mit diesem Gegenfragen-Scheiß, nur weil du einmal in deinem Leben mit Gefühlen konfrontiert wirst.«
»Einmal in meinem Leben? Ich bin verdammt nochmal mehrere Jahrhunderte alt, Lilly. Du bist hier das Baby, nicht ich.«
»Dann benimm dich auch so!«
Schwer atmend standen wir uns gegenüber und ich erkannte in Lucans Gesichtsausdruck genau das, was ich hatte vermeiden wollen. Der Assassine war verletzt. Damit war er nach Drake und Nick heute der dritte Mann, der wegen mir litt. Oder der vierte, zählte man Malik mit.
»Ich kann es dir erklären, Lucan. Wenn du mir einfach mal zwei Sekunden zuhören würdest. Es war wichtig …«
»Spar dir deine Erklärungen, Prinzessin, ich will sie nicht hören.« Ohne mich noch einmal anzusehen oder mich gar zu berühren, stakste Lucan wütend an mir vorbei.
»Lucan!«
Ich zuckte zusammen, als die Tür geräuschvoll ins Schloss fiel. Immer noch schwer atmend stand ich alleine in meinem Zimmer und versuchte den heutigen Tag zu verarbeiten. Ich hatte meinen Bruder und meine Freunde angelogen. Ich hatte mich in Gefahr begeben. Einen Mann geküsst, den ich nicht liebte, und damit den Mann verletzt, den ich liebte. Und das alles wofür? War mein Plan all das wert? Ja. Absolut. Das änderte allerdings nichts daran, wie beschissen ich mich gerade fühlte. Meine Tür öffnete sich leise quietschend und Duncan schlüpfte hindurch.
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