ibidem-Verlag, Stuttgart
Waren das Zeiten: Im kalten Winter Deutschlands kletterten wir die Gangway hinauf, wurden von uniformierten Damen freundlich begrüßt, setzten uns in einen fliegenden Bus, bekamen warme Speisen, Säfte und alkoholische Getränke serviert, nickten ein und schritten Stunden später in Bangkok die Gangway wieder hinunter. Wir befanden uns nun im tropischen Thailand! Und wenn wir beispielsweise nach Sydney wollten, flogen wir eben dahin: „Down under“: Kein Problem!
Reisen war schließlich ein Wirtschaftszweig geworden. Eine „Tourismusindustrie“ war entstanden. Reisebüros, Veranstalter, Beförderungsunternehmen, Hotels und Versicherungen arbeiteten Hand in Hand und umsorgten uns Kunden, die bei ihnen „Touristen“ hießen. Wir Arbeiter in Fabriken, wir Angestellte in Büros, wir Beamte in Verwaltungen, wir großen und kleinen Selbständige – wir alle waren auch Touristen – erst einmal im Jahr und dann immer öfter. Rentner und Pensionäre kamen hinzu – auch sie wurden „Touristen“.
Plumpsklos auf dem Lande wurden Vergangenheit; jetzt kamen schwimmende Hochhäuser auf, die über die Weltmeere schipperten. Tausende von Menschen aßen, tranken, tanzten und schliefen über den Ozeanen. Dort genossen sie „Shows“, Theater und Kinos. Kam Land in Sicht, strömten sie mit Bussen in die Küstenregionen und kamen bald wieder zurück in die Riesenschiffe, denn dort ging „Freizeitleben“ weiter.
War das herrlich, war das schrecklich! – Den Touristen gefiel das „Produkt“: Ägypten, Griechenland, Italien und Spanien nahmen sie bei ihren „Rundreisen“ mit. Sie kamen herum. – Die Einheimischen hingegen schlugen die Hände über den Köpfen zusammen. Ankerten die Riesenschiffe in ihren Häfen, zerstörten sie als fahrende Hochhäuser jede Kulisse. Die Häfen wurden abgeriegelt, und Fremde strömten in Hundertschaften durch Straßen und Gassen.
Die Bürgermeister aber freuten sich, dass die „Pötte“ erhebliche Liegegebühren einfuhren. Endlich kam Geld in die Stadtsäckel.
Dann kam Corona, und plötzlich war Schluss.
Ferienziele erschienen den Touristen als Horrororte, Traumschiffe mutierten zu schwimmenden Gefängnissen, Flugzeugflotten blieben auf der Erde, Reisebüros verödeten, und Reiseveranstalter feilschten mit ihren Kunden ums Geld.
War nun alles vorbei?
Wer weiß das schon?
Einmal war es aber doch schön gewesen. Die ganze Welt lag den Reisenden zu Füßen, und sie konnten dabei so viel lernen.
Im Sommer 2020 unternahmen manche wieder die gewohnten Schritte in den Urlaub, oder sie statteten ihrer alten Heimat die üblichen jährlichen Besuche ab. Aber es war alles anders als zuvor: Bei Aus- oder Einreisen drohten Tests oder Quarantänen, Flugzeuge verkehrten spärlich, und Fahrpläne wurden unberechenbar. Die allgemeine Akzeptanz der Sommerreisen sank.
Der Wunsch, so etwas wieder zu erleben, bleibt. Es ist offen, auf welchem Wege sich das Bahn bricht. Wird es gute Kompromisse geben zwischen Einheimischen und Touristen der Zukunft?
Wie es war, wissen wir immerhin. Wie es wird, nicht. Es lohnt sich, an das Vergangene zu erinnern. Vielleicht vernichtet Corona nicht alles.
Meiner lieben Frau Elke danke ich für mannigfache Hilfe und Unterstützung. Allen Mitreisenden von einst danke ich für die gewährte Gesellschaft. Frau Valerie Lange vom ibidem-Verlag danke ich für die Hilfen beim Erstellen dieses Werkes.
Berlin 2020, Jürgen Dittberner
Inhalt
Vorwort
I. Vom Reisen
1. Mobilität
2. Immobilität
3. Kommerzialisierung
4. CO2-Bilanz
5. Tabula Rasa durch Corona
6. Zwangsreisen
7. „Grenzüberschreitende“ Reisen
8. Erholung
9. Massentourismus
10. Ende des Reisens?
II. Alte Heimat
III. Vor Ort
1. Minister in der Lüneburger Heide
2. Dackel zwischen Hamburg und Bremen
3. Ins Schulhaus
4. Besamer auf der Alm
IV.In den Hauptstrom
1. Spitze Buben am Vesuv
2. Kalimera: Der Hase Augustin
3. „It’s for you boys!” auf Teneriffa
4. Sandalen auf Lanzarote
5. Mit „Buffke“ nach Gran Canaria
V.Offizielle Reisen
1. Israel
2. USA
3. Türkei: Der Imam ist fort
4. Japan: „Plost!“
VI. Europäische Regionen
1. Athen: Küsschen für die deutsche Regierung
2.Kos: Kein Kloster!
3. Kreta: Der kleine Zeus
4. Zypern: Wie in der DDR?
5. Malta: Gottes Wille?
6. Rom: Wo ist der „Heilige Geist“?
7. Apulien: „Nationale Schande“ in Matera
8.Apulien da Capo, weil es so schön war
9.Kastilien-León, Extremadura und ein wenig Andalusien: „Wie bei Aldi“?
10. Andalusien: Wo sind die Mauren geblieben?
11. Lissabon: Sturm im Süden
12. Douro: Nur schiffbar in Portugal
13. Paris und Loire: Vive la France!
14. Aquitanien: Frankreich oder England?
15. Burgund und Provence: Das wahre Frankreich
16. Holland und Belgien: Geizig oder doof?
17. Irland: Whiskey in alten Wein- und Sherryfässern
18. Rumänien: Land der vielen Kirchen
19. Ukraine: U-Boote und Maschinengewehre
20. Baltikum: Sängerland
21. Kroatien: Wo der Kaiser Urlaub machte
22. Norwegen: Eine Flasche Wein für siebzig Euro
23. Island: Trolle, Zwerge und Engel
24. Passau: Wien – Bratislava – Budapest
VII. Weltweite Regionen
1. Die Weltreise: Berlin – Singapur – Sydney – Neuseeland – Rarotonga – Los Angeles – Frankfurt/M. – Berlin
2.Ägypten
3.Cuba
4.Indien
5. Arabische Tage
6. Oman
7. Sri Lanka
8. Vietnam und Kambodscha
VIII. Mythische Staaten
1. USA 1
2. USA 2
3. Russland: Arm und Reich
4. China: Schlappi, Schlappi
IX. Favoriten
1. Die Schweiz
2. Samos
3. Bad Reichenhall
X. Alltagsreisen
1. An der Ostsee
2. Holm-Seppensen
3. Leipzig
4.Oberwiesenthal
5. Warmensteinach
6. Rheinsberg und Weber B
XI. Reisen ohne Zukunft?
I. Vom Reisen
1. Mobilität
Warum wechseln Menschen ihre Standorte? Warum reisen sie?
Oft ist es Neugier auf Unbekanntes: Alexander von Humboldt reiste nach Südamerika, um eine fremde Welt auszumessen.
Oder es ist Gier? Christoph Columbus wollte Spanien den vermuteten Reichtum aus Indien zugänglich machen. Und er gab das Startsignal zur Ausplünderung Südamerikas.
Immer wieder treibt pure Lust Menschen an: „ Das Wandern ist des Müllers Lust.“
Für bestimmte Berufsgruppen gehört die Mobilität zur Pflicht: Fahrende Gesellen zogen von Ort zu Ort, Geschäftsreisende drängt es zu ihren Kunden, und wer Professor werden will, wird seine Alma Mater verlassen müssen, wenn er eine „Hausberufung“ umschiffen muss.
Manchmal ist es ist Forscherdrang: Ferdinand Magellan wollte im Auftrag des Königs von Portugal aus einen Seeweg nach Westen finden, da man erkannt hatte, dass die Erde eine Kugel war.
Auch Herrschsucht ist ein Motiv: Napoleon zog nach Osten, weil er ganz Europa beherrschen wollte.
Nicht selten steckt Gewinnstreben dahinter: Englands führende Klasse erschloss sich ein Weltreich, um auf Kosten fremder Völker reich zu werden.
Gerne zieht Romantik Menschen hinaus in die Welt: Johann Wolfgang von Goethe tourte durch Italien, um das Land zu sehen, „ wo die Zitronen blühen “.
Auch das Verbrechen bewirkt oft Mobilität: Adolf Hitler fiel in fremde Länder ein, um seine Schreckensherrschaft auszuweiten.
Mobilität kann unfreiwillig erfolgen: Viel zu oft werden Menschen verbannt – manchmal in Lager, manchmal in ein vermeintliches Nirwana wie nach Australien oder Grönland.
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