Ich wollte schon loslaufen und reingehen, da hielt ich inne. Mir wurde klar, dass ich dort gar nicht hinwollte. Vielleicht starb mein Vater ja, und ich musste zusehen. Das konnte ich nicht. Wenn er schon sterben musste, dann musste er das ohne mich tun, ohne dass ich mich über ihn beugte und Gelassenheit vortäuschte. Es gab zu viele unerledigte Dinge zwischen uns. Ich konnte mir einfach diese Lüge nicht für den Rest meines Lebens auf meine Schultern laden.
Ich spürte Wind aufkommen und mir ins Gesicht blasen – einen wohlriechenden Wind, süß und köstlich. Dankbar für die Ablenkung folgte ich ihm weg vom Krankenhaus, um die Ecke und wieder die 137ste Straße entlang Richtung Eighth Avenue.
Manchmal machte Harlem einfach solche Dinge, wisst ihr? Es öffnete und offenbarte sich mit kräftigen Gerüchen, vielfältig und durchdringend, übergoss und umhüllte einen mit Klängen und ließ sie üppig herumwirbeln wie Herbstfarben. Schon wenig später wusste man nicht mehr, was was war oder wo die Wahrnehmung herkam.
Die meisten Menschen wissen es nicht, aber genau in diesem nebligen Nebeneinander von Wahrnehmungen entstehen Songs, hier werden sie erstmals entworfen, als Geschichten im Zweivierteltakt. Schließlich werden die Geschichten zu Wahrheiten, werden in komplexere Strukturen eingestreut, in den Rhythmus eingelagert, denn der geht nicht verloren. Er ist unzerstörbar und gehört uns, unverschämt unsterblich und frei.
Achtelnoten kamen vom Hang des Sugar Hill, und weil sie mich riefen und dabei lächelten, dachte ich nicht mehr an das Krankenhaus, sondern ging ihnen nach. Etwas anderes konnte ich nicht tun – nur ihnen antworten und folgen.
Ich musste mich einfach von dem Gefühl befreien, in meinem Körper gefangen zu sein, das Objekt der Erwartungen so vieler Menschen zu sein. Ich musste nachdenken, und im Krankenhaus konnte ich das nicht. Mittlerweile wussten sicherlich alle, dass Dr. Crump angeboten hatte, für Papas Operation und Krankenhausbett aufzukommen. Die anderen würden erzürnt und feindselig sein, würden wissen wollen, warum. Was machte William Chinn zum Vorzugspatienten in einem Krankenhaus, das für 200 000 Menschen nur 273 Betten hatte? Es würde lautes Murren und böses Gerede über »Sonderbehandlungen« geben. Vergeltungsmaßnahmen.
Es gab schon zu viele Menschen, die mich beobachteten, obwohl sie vorgaben, das nicht zu tun. Nein, noch schlimmer: Sie erwarteten allen Ernstes, dass ich vortäuschte, mir sei nicht bewusst, dass sie es waren, die etwas vortäuschten. Dieses Theater war schnell mühsam und lästig geworden. Es war der wahre Grund dafür, dass ich meinen Tutor gebeten hatte, mich dem Sanitätsdienst draußen zuzuteilen.
In den vergangenen Jahren hatten nur eine Handvoll Frauen (von der ersten bis zur letzten weiß) ein Internship , die praktische Ausbildung, absolviert. Keine hatte Sanitätsdienst machen dürfen. Die Männer wurden regelmäßig eingeteilt, aber um die Sicherheit einer Frau aufs Spiel zu setzen, war Harlem viel zu gefährlich, zu widerspenstig und unvorhersehbar. Die anderen Ärzte hatten keine Ahnung, warum ich darauf bestand und nicht locker ließ. Aber sie mussten ja auch nicht die Augen ertragen. Ihnen war ja auch nicht auferlegt, nicht zu wissen, was sie wussten, und sich bei all dem an alles zu erinnern, was man sie aufgefordert hatte zu lernen – nur um diese Augen zufriedenzustellen.
Die meisten von ihnen wollten mich loswerden, sowohl Ärzte als auch Interns , Assistenzärzte, aber wo sollte ich denn sonst hin? Wo sonst wurde ich gebraucht, wenn nicht hier, bei meinen Patienten? Sie waren meine Anker, strategisch angeordnet, um mich zu halten, Zahnräder, die mich mit meinem Leben verbanden. Ohne sie konnte ich jederzeit wegtreiben, ein neues und womöglich nicht wiederzuerkennendes Ding werden. Und was sollte ich dann machen?
Ich bog um die Ecke und überquerte die Straße an der Stelle, wo der Gehsteig nach Pfefferöl und Schweinebraten roch, und das, obwohl Pig Foot Mary erst wieder gegen zehn am Vormittag dastehen und Klatsch, gebutterte Süßkartoffeln und Innereien in ihrem Handkarren anbieten würde. Dann wieder stadtauswärts, nein, doch weiter Richtung Downtown, vorbei an den Sandsteinhäusern mit ihren bröckelnden Ziegelfassaden, vorbei an den rötlich-beigen Mietshäusern, die im Sommer brodelten und stanken, egal, wie sehr die Frauen auch putzen mochten. Vorbei an den ungestrichenen Bruchbuden, die im Winter schwer atmeten, sich dehnten und ihre Knochen und Fenster knacken ließen, sodass die Wärme nicht drinbleiben konnte und die Kälte einfach nicht draußenbleiben wollte.
Hier wohnte ich, hier fühlte es sich an, als ob ich schon immer hier gewohnt hätte.
Ich fragte mich, ob der kleine Michael schon eingeschlafen war und ob Emmy daran gedacht hatte, eine warme Kompresse auf ihren Busen zu legen, so wie ich es ihr gesagt hatte. Ich musste wieder einen Besuch machen und nach ihr sehen, vielleicht gleich morgen, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war. Ich würde hingehen, bevor ich abends die Spätschicht antrat. Die anderen Frauen waren sicher noch munter und stießen auf das neue Leben an. Mama war noch nicht wach, würde aber bald aufstehen, in ein paar Minuten. Dann wären wir beide auf und könnten aneinander denken; damit fühlte ich mich gleich viel besser.
Beim Gedanken an Mama fiel mir ein, dass ich mich für die Nacht abmelden musste. Es gab noch etwas zu besprechen.
Ein Teil von mir sträubte sich gegen den Gedanken an ein Gespräch, gegen diesen plötzlichen Drang, der in mir entstand. Es konnte doch nicht richtig sein, dass ich auf die Meinung anderer Leute angewiesen war, um mich wohl in meiner Haut zu fühlen. Andererseits war ich es leid, allein zu sein; es kam mir vor, als hätte ich so viele Dinge, so viele Menschen in meinem Herzen aufgenommen, als Teil von mir, auch wenn sie sich offenbar nicht genötigt fühlten, den Gefallen zu erwidern.
Und was ist, wenn er wirklich stirbt?
Der Gedanke kam von ganz allein und flüsterte in mein rechtes Ohr, dasjenige, das mehr dem Straßenpflaster zugewandt war. Was, wenn er stirbt und nichts zwischen uns beiden geklärt ist? Um wie viel schlimmer wäre dann alles?
Ich drehte mich um Richtung Harlem. Beinahe so wütend darüber, dass ich plötzlich losrennen wollte. Nein, ich rannte nicht. Aber ziemlich schnell ging ich die leere, ruhige Straße hinunter.
Ich konnte es noch schaffen.
Ich öffnete die Tür, als Mama sich gerade im Wohnzimmer an den Küchentisch setzte. Sie pustete Wellen in ihren Kaffee und ließ den Dampf aufsteigen bis an ihr Haar, wo er einen Moment lang hängenblieb, wie ein schickes Hütchen, und sich dann auflöste. Ihr gegenüber stand eine zweite Tasse Kaffee und wartete.
Ich huschte leise hinein, vergaß jedoch, die Tür zu schließen – wieder einmal. Mit gesenkten Augen erinnerte mich Mama daran. Sie hatte natürlich recht. Schon zweimal war mir jemand nach Hause gefolgt, um mich auszurauben, mir das Kodeinpulver und die Morphiumpillen aus der Tasche zu nehmen; einmal mit vorgehaltener Waffe. Aber irgendwie schien ich das nicht wahrhaben zu wollen. Als ich die Tür geschlossen hatte, ging ich zum Tisch und rückte meinen Stuhl so nah wie möglich an ihren.
»Morgen, mein Liebling.« Sie lächelte, als ob sie mich gar nicht erwartet hätte. »Du bist früh dran.«
»Morgen.«
»Wie geht’s deinem Vater?«
»Unverändert. Sein Zustand ist der gleiche wie am Abend.«
»Wie war’s bei der Arbeit?«
»Gut«, sagte ich. »Das Miller-Baby kam zu früh.«
»Aber das wusstest du doch. Geht’s ihm gut?«
»Ja, Ma’am. Er und die Mutter sind wohlauf.« Ich pustete auf das Zimtpulver auf meinem Kaffee und nahm einen Schluck.
»Gott sei Dank.«
»Er hatte sogar ein Glückshäubchen über dem Gesicht.«
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