Ich drückte das Gefühl der Einsamkeit, des Abgetrenntseins, weit hinunter in meine Hände und spülte es aus, indem ich den Boden schrubbte. Auch die Eifersucht wurde abgerieben, als ich saubermachte, mit dem Blut und der Nachgeburt auch die Traurigkeit wegwischte und bei all dem darauf achtete, dass ich auch unter das Bett und in jede Ecke kam. Ich steckte die Geburtsmatte und Emmys altes Kleid in einen Sack zum Verbrennen. Das Glückshäubchen bewahrte ich für den Tee gegen böse Geister und zur weiteren Untersuchung auf.
Emmy hatte Probleme mit Michael. Als sie anfing, ihn zu stillen, bekam sie Schmerzen. Es war an der Zeit, die anderen Frauen hereinzurufen; ich hätte gern hinübergegriffen und ihr geholfen, doch das war die Aufgabe ihrer Mutter. Ich machte die Tür auf und sagte: »Kommen Sie rein. Er ist da.«
Ruth Miller und ihre drei Schwestern stürmten ins Zimmer und stürzten sich auf das Kind, bevor ich noch die Tür richtig aufgemacht hatte.
»Schaut da«, sagte die älteste Schwester, Rose. »Schaut euch den großen Kerl da an.«
Sie waren verliebt. Michael Anthony, der einzige Mann im Haus.
»Der kann sich schon sehen lassen, oder nicht?«, fragte Miss Ruth.
»Dies Baby hier sieht genauso aus wie mein Henry, kurz bevor er starb, der Arme«, sagte Tante Lucy.
Annie, die jüngste und kräftigste der Schwestern, beugte sich vor und rümpfte die Nase.
»Was hast du denn jetzt schon wieder, Annie?«, fragte Rose streng. »Was machst du wieder für Grimassen?«
»Mit dem Baby stimmt was nich«, sagte Annie.
Die anderen Frauen begannen sofort, sie im Patois-Dialekt auszuschimpfen – das meiste davon verstand ich nicht. Aber Annie ließ sich nicht einschüchtern.
»Nee«, wiederholte sie, »der Junge riecht schlecht. Schlecht, sag ich. Kann nur nich sagen, was für’n Geruch das is.«
»Annie –«, fuhr Miss Ruth sie an.
»Ich sag’s euch im Ernst, der riecht.« Jetzt leuchtete Annies Gesicht auf. »Ich hab’s! Ich weiß, nach was er riecht.«
»Nach was?«, fragte Tante Lucy.
»Der riecht nach Muschi !«
Die Frauen kreischten allesamt vor Lachen, ließen sich prustend gegen die Wand fallen, aufs Bett, gegen das Schreibpult, tanzten lachend ein paar Cakewalk-Schritte und drehten sich gackernd umeinander. Dieses Baby war ein Fest. Es verdrehte den Frauen völlig den Kopf.
Ich hingegen war völlig schockiert, dass anständige Frauen solche Worte benutzten. Mein Vater hatte mir nicht einmal erlaubt, v-e-r-d-a-m-m-t zu sagen. Wenn ich je wütend genug war, um zu fluchen, legte ich eine Hand aufs Herz und sagte: »Du liebe Zeit!«
Je mehr ich errötete, desto lauter lachten sie natürlich.
»Hört auf!«, kreischte Lucy. »Schaut, was ihr gemacht habt. Ihr habt unsere Ärztin erschreckt.«
»Ach was! Frau Doktor hat auch eine, genau wie –«
»Bitte nicht!«, riefen die anderen Frauen, denen die Tränen übers Gesicht liefen.
Dann kam mir Tante Rose zu Hilfe. Wenn man so will.
»Gute Ärztinnen sagen solche Sachen nicht«, klärte sie ihre Schwestern auf. »Ist es nicht so, Dr. May? Und außerdem hat Miss Landry vom Frisiersalon unten an der Lenox neulich gesagt, Dr. May hat noch nie einen Mann gehabt. Deshalb ist sie besonders empfindlich bei solchen Sachen.«
Die Frauen rangen nach Luft und warfen die Hände in die Höhe. Dann fingen sie an, durcheinander zu reden, so schnell, dass ich fast nicht mitkam.
»Kein Mann! Wie lebst du denn ohne Mann, Kind?« (Tante Lucy)
»Is nich wahr.« (Tante Annie)
»Ist das die Möglichkeit?« (Miss Ruth)
»In deinem Alter, Liebes.« (Tante Rose)
»Sie sieht so jung aus.« (Miss Ruth)
»Wie ein Baby«. (Tante Lucy)
»So jung is sie gar nich.« (Tratschtante Annie)
Dann sagte Tante Lucy: »Raus mit der Sprache, Mädchen. Was für einen Mann hast du?«, und im Raum kehrte Ruhe ein.
Nach einem Moment Pause schnalzte Annie mit der Zunge. »Sie weiß nicht, was sie sagen soll.«
»Das denkt sie nur!«, sagte Tante Lucy.
Unter diesen Umständen blieb mir nichts anderes übrig – ich wich wie ein Feigling aus und hielt das Glückshäubchen hoch.
Die Frauen schlugen sich vor Schreck mit der Hand auf den Mund ( endlich doch still ) und traten den Rückzug an bis hinten an die Wand.
»Das wollen Sie sicher behalten«, sagte ich ihnen. »So kam er raus, mit dem hier auf dem Gesicht.«
»Ja, Dr. May«, sagte Miss Ruth leise. Sie streckte die Hand aus, um es mir abzunehmen, hielt dann jedoch inne und zog die Hand wieder zurück. Sie schien vor dem Ding Angst zu haben.
Ich kam mir vor wie ein Schuft. Ich hatte die ganze Fröhlichkeit aus dem Raum gesogen, von einer Sekunde auf die andere. Geburten sind doch eigentlich erfreuliche Anlässe. Aber auf einmal sahen diese Frauen ernst und eingeschüchtert aus. Miss Ruth stand da und starrte auf das Glückshäubchen, die Hände vor sich verschränkt, als ob sie es nicht anfassen wollte. Ich ging rüber zum Schreibpult und wickelte es in ein Stück weichen Stoff, der neben meiner Arzttasche lag.
»Mamsie, sein Name is Michael Anthony.«
So sanft wie deutlich brachte uns die Hoffnung in Emmys Stimme alle wieder zur Besinnung. Miss Ruth wandte ihre Aufmerksamkeit jetzt ihrer Tochter und ihrem Enkel zu. Die Frauen schienen ihn noch einmal ganz neu anzusehen, mit neuen Augen. Das Baby gähnte und dehnte sich und beendete mit seiner bloßen Vollkommenheit die Spannung.
»Schaut euch dieses faule Bürschchen an«, gurrte Tante Rose.
»Ja, Ma’am. Ich hab ihm noch nich mal Arbeit gegeben, und trotzdem tut er schon so, als ob er schläft«, sagte Miss Ruth.
Und mir nichts, dir nichts war der Raum wieder von Lachen erfüllt.
Es war weit nach vier in der Früh, als ich wieder die Lenox Avenue entlang Richtung Krankenhaus ging. Ich hatte keine Uhr, doch ich wusste einfach, wie die Zeit verstrich. Ich war so an die Nacht gewöhnt, dass ich die Stille, die um 2 Uhr 45 herrschte, von der um 3 Uhr 30 unterschieden konnte. Es gibt einen speziellen Geruch, einen anderen Geschmack in der Luft, wenn die Sterne wandern und untergehen. Man kann es kaum erklären, aber je später es wird, desto freier wird die Nacht. Und wenn dann die Dämmerung kommt, gibt es fast nichts mehr, was sie einengt.
Gegenüber dem Krankenhaus kam ich an Rudy’s Recovery Room Bar & Grill vorbei und überlegte kurz, ob ich nicht reinschauen sollte. Der Laden sollte eigentlich seit Stunden geschlossen sein, aber ziemlich oft saßen der alte Rudy und seine Kumpane, zu denen hie und da auch Papa gehörte, noch da und krakeelten herum, bis die Sonne aufging.
Was würden all die Taugenichtse und Säufer denken, wenn sie mich sehen würden, wie ich reinkomme, um noch einen zu nehmen? Skandal! Noch vor dem Mittagessen wüsste jeder hier in Harlem Bescheid. Die normalen Leute würden frömmelnd und peinlich berührt davon erzählen und die Säufer würden nur den Kopf schütteln können, hm-hm-hm .
»Dr. May? Lil’ Bit May von hier um die Ecke? Bei Rudy’s? Nee, Alter. Du lügst doch.«
»Kannste ruhig glauben, Mann. Hab’s selbst gesehn. Sie kommt rein, in aller Herrgottsfrühe, frech wie Oskar. Und ich sag’ dir: Die hatte schon’n bisschen was getankt.«
Bei dem Gedanken musste ich lachen, ein kurzes, teuflisches, niederträchtiges Lachen. Als ich so lachte, konnte ich atmen. Ich stand am Bordstein, wippte mit den Zehen und ließ ein Maultiergespann vorüberziehen, und das eigentlich nur aus Höflichkeit, denn außer diesem Ding bewegte sich rein gar nichts auf der Straße.
Der Haupteingang des Krankenhauses lag direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite. Im dritten Stock, im Nordwestflügel, lag mein Vater und erholte sich. Er hatte die Operation überlebt, und auch wenn niemand das sicher sagen konnte, hofften alle, er würde die Nacht überstehen.
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