Kuwana Haulsey
Die Lebensgeschichte
der ersten farbigen Ärztin in New York
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Dieter Fuchs
May Chinn träumt davon, Pianistin zu werden. Aber in den 1920er-Jahren ist es unmöglich, sich als Farbige in New York zu behaupten. Als ihr ein erzkonservativer Professor verdeutlicht, dass sie keine Chance auf eine große Karriere hat, studiert sie Medizin. Auch hier wird sie mit heftigem Widerstand konfrontiert – und doch gelingt es ihr, die erste schwarze Ärztin New Yorks zu werden.
Kuwana Haulsey hat dem faszinierenden Leben der Ärztin May Edward Chinn (1896 – 1980) ein poetisches Denkmal gesetzt – ein Leben des leidenschaftlichen Kampfes für die Rechte der Frau und der schwarzen Minderheit.
Für meine Mutter, Janis Dansby,
deren Liebe alles möglich macht.
Vorbemerkung des Übersetzers Vorbemerkung des Übersetzers In seinem 1926 erschienenen Erfolgsroman Nigger Heaven schrieb Carl Van Vechten in einer Fußnote zu dem Ausdruck Nigger: »Wird diese Bezeichnung auch von Schwarzen im Umgang miteinander problemlos verwendet, und zwar nicht nur als Schimpfwort, sondern ebenso gern als Kosewort, ist seine Verwendung durch eine weiße Person jederzeit strengstens abzulehnen.« (Carl Van Vechten: Nigger Heaven , University of Illinois Press, Urbana & Chicago 2000; S. 26.) Es soll hier ausdrücklich festgehalten werden, dass die im vorliegenden Buch vorkommende Verwendung von Rassenbezeichnungen wie »Neger«, »Schwarzer«, »Farbiger« oder gar »Nigger« sowie Hautfarbenbezeichnungen wie schwarz, hell, dunkel, braun in verschiedenen Abstufungen oder karamell-, butter-, zitronenfarben etc. reine, wörtliche Übertragungen der von der afroamerikanischen Autorin des Romans, Kuwana Haulsey, verwendeten Formulierungen darstellen und keinerlei darüber hinausgehende Wertung oder gar abfälligen Unterton enthalten.
TEIL EINS TEIL EINS
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
TEIL ZWEI
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
TEIL DREI
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
ANHANG
Nachwort der Autorin
Danksagung
Übertragung der im Buch zitierten Texte
Anmerkungen
Quellen
Vorbemerkung des Übersetzers
In seinem 1926 erschienenen Erfolgsroman Nigger Heaven schrieb Carl Van Vechten in einer Fußnote zu dem Ausdruck Nigger: »Wird diese Bezeichnung auch von Schwarzen im Umgang miteinander problemlos verwendet, und zwar nicht nur als Schimpfwort, sondern ebenso gern als Kosewort, ist seine Verwendung durch eine weiße Person jederzeit strengstens abzulehnen.« (Carl Van Vechten: Nigger Heaven , University of Illinois Press, Urbana & Chicago 2000; S. 26.)
Es soll hier ausdrücklich festgehalten werden, dass die im vorliegenden Buch vorkommende Verwendung von Rassenbezeichnungen wie »Neger«, »Schwarzer«, »Farbiger« oder gar »Nigger« sowie Hautfarbenbezeichnungen wie schwarz, hell, dunkel, braun in verschiedenen Abstufungen oder karamell-, butter-, zitronenfarben etc. reine, wörtliche Übertragungen der von der afroamerikanischen Autorin des Romans, Kuwana Haulsey, verwendeten Formulierungen darstellen und keinerlei darüber hinausgehende Wertung oder gar abfälligen Unterton enthalten.
Auf den Seiten 409–415 werden im Text vorkommende Eigennamen, Lokalitäten, Ereignisse sowie Spezialausdrücke erklärt.
TEIL EINS
Dreiundsiebzig Jahre brauchte mein Vater zum Sterben.
Er wartete, in einen breiten Umhang der Erinnerung gehüllt, und starrte aus dem Fenster hinunter auf das weite Tal des Winters. Die Erinnerung hatte neue Furchen und Wegzeichen in sein Gesicht gebracht; sie verliefen ostwärts, Richtung Fluss. Wenn die Erinnerung ihn verließ, folgte er ihr und suchte mit den Augen die durchhängenden, weißen Dächer draußen ab, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Aber Papa wollte einfach nicht in die Strömungen seines Verstandes waten, wagte sich nicht vor, obgleich er es gekonnt hätte, wollte nicht weit genug gehen, um endlich erlöst zu werden.
So starrköpfig, dieser alte Mann. Richtig anstrengend.
Und ich bin nichts anderes als seine Tochter.
Mein Papa schaffte es bis an den Rand des Frühjahrs 1936. Februar und März waren erdrückend gewesen in der ganzen Stadt, besonders aber in Harlem. Rinnsteine erstarrten zu eisigen Rutschbahnen. Straßen waren ohne Farben und Düfte, abgesehen vom penetranten, abgestandenen Geruch des Schnees.
Monate zuvor, als er noch geglitzert hatte, hatte ich mit den Nachbarskindern in den Haufen herumgetollt und kleinen nussbraunen Jungs mit ungekämmten Haaren und unbedeckten Köpfen Schneebälle nachgeworfen. Sie rannten weg, sammelten sich und krochen wieder heran wie kleine Kätzchen, mit funkelnden Augen, vorsichtig tapsend und wurfbereit. Die Kinder trugen geflickte Mäntel aus Sackleinen; manche hatten Schals, manche Handschuhe, aber niemand hatte beides. Hätte ich ihnen die Schuhe ausgezogen, wären sie zum Vorschein gekommen, ihre Fußsohlen, tätowiert mit Druckerschwärze, die kleinen, aschgrauen Zehen, vom Abenteuer zerfurcht.
Ich liebte diese Kinder innig, hatte zwei oder drei von ihnen selbst zur Welt gebracht, die, die mich Mama May nannten und nicht Dr. May oder Ma’am.
An diesen Spätnachmittagen, wenn die Sonne sank und ihr Licht wie Getreidegarben oder wie eine dicke Sahneschicht über die Straßen legte, gaben diese Kinder mir das Gefühl der Wahrhaftigkeit. Sie lehrten mich, dass Spielen eine Menge unerwarteter Freude erzeugt und gleichzeitig die Wahrheit ans Licht bringt – man ist nicht Gegner, sondern Mitverschwörer im Spiel.
Mit ganzem Herzen musste ich mich an sie erinnern, an die Weisheit, die aus der Unschuld kommt, um mich in ihren Augen zu sehen und diese unverdorbene Vorstellung schätzen zu können.
Also kreischte ich wie ein junges Mädchen, wenn sie »Auf sie!« riefen und mir Schneebälle in den Kragen stopften. Ich tat, als würde ich wegrennen, sodass sie mich festhalten und mir dabei noch mehr Schnee in die Taschen meines schicken Covert-Mantels stecken konnten, des ersten guten Mantels seit drei Jahren. Das machte nichts. Ich kicherte trotzdem und leckte mir den Schnee von den rosigen Handflächen, ehe die Schneeflocken schmolzen und ihre gläserne Form verloren.
Doch im März war alles anders.
Die Straßen waren geschwärzt von knatternden Lastwagen und Füßen und Maultieren und menschlichem Unrat, besonders dort, wo die Gullideckel auf den Straßen regelmäßig vor Kälte anschwollen und zerbarsten. Matschige Schlieren bildeten sich auf Eis und Asphalt und schlängelten sich entlang der Straßen den ganzen Weg hinunter, bis zum Fluss, der selbst ergraut, erstarrt, vom Frost in Stillstand versetzt war.
Als der März kam, waren die Kinder längst nach Hause gegangen. Jetzt waren die Straßen leer, es sei denn, irgendeine Arbeit konnte nicht warten. Und so kam es, dass niemand sich aufmachte, um zu Füßen meines Vaters Totenwache zu halten. Kein Freund aus alten Tagen flüsterte meiner Mutter Trost oder Beileidsbekundungen ins Ohr. Keine Nichte oder Kusine schaute vorbei, mit einem Gemüseauflauf oder knusprigem Hasenbraten als Liebesgabe.
Nicht einmal seine verlorenen Töchter kehrten zurück, um ihn zu verabschieden. Den Monat zuvor hatte ich noch an Irene geschrieben, und sie hatte geantwortet: »Ich schaff’s nicht. Zu viel los hier. Aber ich sag’s weiter. Sag dem alten Mann, ich drück’ ihm die Daumen.«
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