1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 »Was du nicht sagst.« Mama seufzte und schloss die Augen. Ganz leicht, wie abwesend, mit geschlossenen Augen, strich sie mit ihren Fingerspitzen über meine Wange. »Möchtest du wirklich wissen, wer Fanny ist?«
»Ja, Ma’am.«
»Warum? Warum willst du das wissen?«
Ich zuckte mit den Achseln, obwohl sie mich gar nicht ansah. »Ich kann es nicht wirklich erklären. Aber ich spüre, dass es wichtig ist.«
Das war nur zur Hälfte wahr, aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, um das auszudiskutieren. Ich legte meine Finger um die schwere, metallene Kaffeetasse, damit sie nicht sehen konnte, wie sehr meine Hände zitterten.
»Also gut«, sagte sie.
Es dauerte eine ganze Weile, bis meine Mutter weitersprechen konnte. Als sie dann schließlich ihre schwarzen Augen öffnete und zu erzählen begann, war sie schon längst ganz woanders.
Manassas, Virginia – 1862
Susan behielt den Namen Chinn bei, weil ihre Mama Patty und ihr Papa John den Namen Chinn beibehielten. Sie alle waren Eigentum eines Mannes namens Gibson, hielten jedoch unerbittlich an dem Namen Chinn fest, auch wenn die vielen Jahre, in denen Männer gekauft und weiterverkauft wurden, diese Verbindung ziemlich gelockert hatten.
Papa John bestand hartnäckig darauf, dass sie dasselbe Recht auf diesen Namen hatten wie ein weißer Mann. Und so wurden Klein-William und seine Zwillingsschwester Fanny ebenso wie alle anderen acht Kinder von Susan, ihre Tanten, Onkels, Vettern und Kusinen mit dem Namen Chinn versehen und losgeschickt, um sich in den Hügeln und Maisfeldern der Fleetwood-Plantage zu tummeln.
Fleetwood hatte mit die beste, dunkelste Erde des ganzen Prince William County. Mama Patty, Papa John, ihre Kinder und Enkel bearbeiteten John Gibsons Land, als sei es ihr eigenes. Sie pflügten und säten burgunderfarbene Felder, wo die Erde so regen-und-honig-süß war, dass die Kinder darin verlorengingen, sich in der Krume wälzten, die so weich und köstlich wie Lehm war und wie gemacht dafür, darin zu träumen.
William und Fanny waren stets die Ersten, die verlorengingen. Irgendwann entdeckte man sie dann, wenn die Maisstängel wackelten, zu deren Füßen sie Pfirsichkerne einbuddelten. Das sorgte dafür, dass im Frühjahr der Mais aufplatzte und weiße Kolben mit herrlich süßem Fruchtfleisch enthüllte. Einmal fand man sie, wie sie sich in der Scheune versteckten, die Backen verschmiert mit Butter und vollgestopft mit geklauten Keksen. William lag am Boden der Box der dicken Sally, den Mund weit geöffnet, während Fanny versuchte, aus einem der Kuheuter in seine Richtung zu zielen. Manchmal verschwanden sie aber auch einfach.
Niemand bestrafte die Zwillinge je allzu streng. Miss Frances, nach der Fanny benannt war, hob nie die Hand gegen sie; auch ihre Mutter Susan nicht. Und sogar die schwarzen Aufseher ließen im Fall der Zwillinge fünfe gerade sein. Für ihre Disziplin war immer Mama Patty zuständig gewesen, doch als die Zwillinge ihren zehnten Sommer erlebten, war Mama Patty tot, und Papa John tat selten mehr, als ungefähr in ihre Richtung zu schlagen.
Im großen und ganzen war man sich einig, die Zwillinge in Ruhe zu lassen, denn die Erwachsenen hatten Mitleid mit Fanny, die mit einem Klumpfuß zur Welt gekommen war. Sie hinkte so stark, dass niemand ihr je eine harte Arbeit abverlangte, nur hie und da ein bisschen Bügeln vielleicht, oder Kuchenbacken. Weil William nie von ihrer Seite wich – es sei denn, er wurde dazu gezwungen –, lernte auch er, zu backen und zu nähen und einen abstehenden Hemdkragen glattzubügeln. Die anderen Kinder hänselten ihn, nannten ihn Wilhelmina und stolzierten mit schwingenden Hüften durch die Küche. William zuckte dann nur mit den Achseln und schob sich einen weiteren Keks in den Mund.
Die Nicht-Chinn-Kinder verspotteten ihn, riefen »He, weißer Junge!«, oder »Schaut nur – der junge Massa Will«, weil er genau wie seine Geschwister glatte Haare, haselbraun-und-blaue Augen hatte und so als Weißer durchgehen konnte. William trug den Spott mit schüchternem Lächeln und Schweigen. Manchmal aber gingen die anderen Jungs zu weit, und wenn das passierte, war es Fanny, die aus der Haut fuhr.
»Ihr eingebildeten Blödiane, legt euch nicht mit ihm an, sonst setzt es was, kapiert?«
Da rannten die Kinder weg, denn auch wenn William in eigener Sache nie einen Finger rühren würde, wussten sie: Sollte irgendjemand Fanny auch nur schräg ansehen, würde er auf sie losgehen, um sich schlagen, beißen und schreien, bis zwei oder drei Erwachsene es endlich schafften, ihn festzuhalten. Er war ihr Beschützer und sie war sein Herzblatt – die zwei verstanden, worauf es ankam in der Welt, und das ohne große Worte. War er hungrig, hatte sie Brot. War sie durstig, brachte er Wasser von unten am Fluss anstatt vom Brunnen direkt am Haus, denn Fanny trank gern an einem Tag das eine, am nächsten Tag das andere Wasser.
Im März sprossen die grünen Walnüsse an den Bäumen, hart wie kleine Murmeln und genau richtig zum Werfen – die perfekte Munition, um einer Kuh Angst einzujagen, oder natürlich den bösen Jungs. Die Luft, warm und flirrend, gab die ersten Anzeichen des Sommers.
Es war das Jahr 1862, und um sie herum tobte der Krieg. Doch daran dachten die Kinder kaum. Ihr alltägliches Leben verlief wie zuvor. Aber eines Abends kam Master Benjamin Chinn von den Chinns aus Lancaster zu uns nach Fleetwood, um mit John Gibson zu reden. William und Fanny kannten Benjamin Chinn gut, den jüngeren der beiden Chinn-Söhne. Er kannte ihre Mutter Susan von Geburt an, denn Mama Patty und Papa John hatten einst seinem Vater gehört, dem Master John Chinn. Immer wenn Benjamin Chinn Fleetwood besuchte, gab es viel Gerede und Getuschel. Stets kam er so unbeschwert und locker in die Sklaven-Quartiere geschlendert, als hätte er gar nichts Besonderes im Sinn, außer vielleicht einem Spaziergang. Aber jetzt war er wieder in Fleetwood, und diesmal sprach er von nichts anderem als dem Krieg.
Die Unionstruppen waren auf der Halbinsel gelandet, etwa hundert Meilen südöstlich von Richmond. Alle Männer im waffenfähigen Alter packten ihre Gewehre ein und machten sich auf den Weg nach Richmond, um die Hauptstadt zu verteidigen. Manassas war jetzt ganz ohne Männer und die Nigger rannten weg, nutzten jede Gelegenheit, um quer durch Wälder und Sümpfe die Linien der Union zu erreichen. Es herrschte totales Chaos. Der Unions-Schlachtruf »Booty and Beauty!« − Beute und Schönheit − war erklungen und schien endlos anzuhalten, während die Flammen eine kostbare Stadt des Südens nach der anderen verschlangen.
Er selbst war Anfang letzter Woche gezwungen gewesen, zwei seiner besten Nigger zu erschießen – und das auch noch am Tag des Herrn. Was sind das für Kreaturen, die am Tag des Herrn erschossen werden wollen? Dummes Pack. Samstagabend waren sie irgendwann abgehauen. Es war nicht schwer gewesen, ihnen zu folgen, und eigentlich wollte er glimpflich mit ihnen umgehen, sie fesseln und wieder heimbringen. Aber als seine Leute sie dann in die Enge getrieben hatten, zog einer eine Pistole und drückte ab. Da blieb ihm dann nichts anderes übrig. Immerhin beerdigte er sie noch anständig, fast wie normale Männer, bevor er heimritt, um seine Verluste zu zählen. Danach schickte er fast all seine Sklaven runter nach Lancaster, von wo sie nicht so leicht fliehen konnten. Er war allerdings überrascht, wie schwer ihm die Arbeit dann doch fiel. Ob John vielleicht ein oder zwei Sklaven entbehren könnte, bis die Lage sich ein wenig beruhigt hatte? Einen, der auf der Farm hilft, könnte er gut gebrauchen. Sie entschieden sich für William, weil jeder wusste, dass er niemals ohne Fanny wegrennen würde, und Fanny konnte nicht rennen. William war eine sichere Sache.
Master Benjamin lebte mit seiner Familie im Chinn-Haus draußen auf der Hazel Plain. Das ganze Frühjahr hindurch putzten William und Fanny bei seiner Frau, Miss Edmonia, ernteten dann Mais, Pfirsiche und Walnüsse und trainierten Master Benjamins Pferde. So gut wie nie wurde eine Arbeit nur einem von beiden aufgetragen; stets hieß es: »William und Fanny, lagert mir diese Kartoffeln unter dem Haus«, oder: »William und Fanny, jetzt müssen die Kühe hinter dem Haus gemolken werden«. Und manchmal hieß es auch: »William und Fanny, wie oft muss ich euch noch zeigen, wie man ein Hemd bügelt, ohne dass Falten bleiben? Zum Kuckuck!« Wo es für alle Beteiligten das Einfachste war, die elfjährigen Zwillinge als eine einzige Person zu behandeln, vergaß Master Benjamin es manchmal – oder machte absichtlich eine Ausnahme –, was dann dazu führte, dass William eine Tracht Prügel erhielt. Wenn William angewiesen wurde, etwas zu tun, das Fanny nicht tun konnte, wie etwa am Warrenton Turnpike vorbei zur Farm der Cushings zu laufen, eine Nachricht zu hinterlassen und vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu sein, machte William das einfach nicht.
Читать дальше