Übungsfälle: Bernsmann , Übungsklausur Strafrecht, Jura 1982, 261; Gössel , Fall 4: Gut gemeint – oder die Leiden des alten Werther; Hilgendorf , Fallsammlung, Fall 12: Zwischen Leben und Tod, S. 91; Marxen , Fall 1e: Gisela-Fall; Kühl/Kneba , Zwei ungleiche Söhne, JA 2011, 426; Wagner , Fall 14: Brandstiftungsdelikte, Versicherungsbetrug, Tötung auf Verlangen; Weißer , Tödliche Erlösung, JuS 2009, 135.
Rechtsprechung: RGSt 68, 307– Schnittwunden (Anforderungen an Ernstlichkeit und Bestimmen); BGHSt 13, 162– Hammerteich (Tötung auf Verlangen durch Unterlassen); BGHSt 50, 80– Kannibalenfall (Törungsverlangen); BGH StV 2011, 284– Revolver (Ernstlichkeit des Tötungsverlangens).
I.Geschütztes Rechtsgut und Systematik
203Die Vorschrift des § 216 stellt einen Privilegierungstatbestandzu § 212 dar und schützt ebenfalls das Rechtsgut Leben. Anders als der Totschlag ist die Tötung auf Verlangen lediglich ein Vergehen (vgl. § 12 Abs. 1 und 2), bei dem jedoch die Versuchsstrafbarkeit in Absatz 2 ausdrücklich angeordnet ist. Die Vorschrift des § 216 macht deutlich, dass grundsätzlich eine rechtfertigende Einwilligung in die Tötung nicht möglich ist und der Rechtsgutsinhaber insoweit in seiner Dispositionsbefugnis eingeschränkt wird 568. Besonderheiten sind jedoch im Rahmen der Sterbehilfe zu beachten, bei der nach BGH nunmehr eine (mutmaßliche) Einwilligung möglich sein soll 569. Bei einer Tötung auf Verlangen findet lediglich ein milderer Strafrahmen Anwendung. Dieses Privileg lässt sich damit begründen, dass aufgrund des Tötungsverlangens einerseits das Unrecht der Tat, andererseits aufgrund der Mitleidssituation bzw. Konfliktlage beim Täter auch der Schuldgehalt der Tat gemindert ist 570.
204Liegt § 216 tatbestandlich vor, tritt eine Sperrwirkungein, so dass auch bei Verwirklichung eines Mordmerkmals § 211 nicht zur Anwendung gelangt 571. Soweit im Rahmen der Tötung auch §§ 224, 226 mit ihren höheren Strafrahmen verwirklicht werden, treten diese ebenfalls zurück, damit die Privilegierung nicht unterlaufen wird. Umstritten ist, ob dies auch für die versuchte Tötung auf Verlangen – ggf. mit strafbefreiendem Rücktritt – gilt.
Bsp.:T kommt dem Tötungsverlangen des O nach und verabreicht ihm Gift. Anschließend bekommt er jedoch Bedenken und alarmiert einen Rettungswagen. O überlebt dadurch. Aufgrund der Wirkung des Giftes kommt es jedoch zu einer Gesundheitsschädigung (§ 224 Abs. 1 Nr. 1) im Zuge derer O das Sehvermögen auf einem Auge verliert (§ 226 Abs. 1 Nr. 1). – Hinsichtlich §§ 216 Abs. 1 u. 2, 22, 23 ist T gemäß § 24 Abs. 1 S. 1 Var. 2 strafbefreiend zurückgetreten. Fraglich ist jedoch, ob T gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 1, § 226 Abs. 1 Nr. 1 bestraft werden kann; denn wäre § 216 zur Vollendung gelangt, hätte dieser Sperrwirkung entfaltet.
205Damit der Täter im Falle der nur versuchten Tötung auf Verlangen nicht schlechter gestellt wird als bei Vollendung, wird auch in dieser Konstellation eine Sperrwirkung angenommen 572. Soweit – anders als im vorgenannten Beispiel – kein Rücktritt vorliegt, lägen dann §§ 216 Abs. 1 u. 2, 22, 23 vor. Bejaht man eine solche Sperrwirkung, verbleibt allerdings im Falle des Rücktritts nur noch eine Strafbarkeit gemäß § 223. Teilweise wird daher die Sperrwirkung nur hinsichtlich des Verbrechenstatbestandes des § 226 bejaht, während bei § 224 die Annahme eines minder schweren Falles vorgeschlagen wird 573, weil dieser einen geringeren Strafrahmen als § 216 aufweise und daher die Privilegierung nicht unterlaufen werde 574. Dies überzeugt jedoch aus zwei Gründen nicht 575: Zum einen gibt es Fälle bei denen nur § 226, nicht aber § 224 einschlägig ist, so dass man letztlich wiederum nur zu § 223 gelangt. Zum anderen muss man sehen, dass im Falle des Versuchs die Strafe im Rahmen des § 216 gemildert werden kann, so dass der Strafrahmen des minder schweren Falles des § 224 demgegenüber höher wäre. Ein anderer Vorschlag zielt darauf ab, den Täter – auch um das erhöhte Unrecht im Tenor zum Ausdruck zu bringen – gemäß §§ 224, 226 zu verurteilen, dabei aber den (ggf. gemilderten) Strafrahmen des § 216 auf Rechtsfolgenseite zu übertragen 576. Rückt man den Schuldspruch allerdings weniger in den Vordergrund, kann man es auch bei der oben genannten Sperrwirkung des § 216 belassen, im Rahmen der Verurteilung nach § 223 jedoch – soweit eine Milderung beim Versuch nicht geboten ist – die Untergrenze des § 216 berücksichtigen (die Strafrahmenobergrenze des § 223 entspricht ohnehin derjenigen des § 216).
2061. Tatbestand
a) Objektiver Tatbestand
aa) Anderer Mensch
bb) Töten: Tatherrschaft über lebensbeendenden Akt (sonst idR straflose Beteiligung an Selbsttötung)
cc) Ausdrückliches und ernstliches Verlangen des Getöteten (sonst § 212, ggf. i. V. m. § 25 Abs. 1 Var. 2)
dd) Durch das Verlangen („dadurch“) zur Tötung bestimmt
b) Subjektiver Tatbestand (beachte § 16 Abs. 2)
2. Rechtswidrigkeit
3. Schuld
Hinweis zum Fallaufbau:Es empfiehlt sich regelmäßig, bei der Fallprüfung mit § 216 zu beginnen und von dort aus weitere Fragen (Abgrenzung zur Selbsttötung; Vorsatzprobleme) zu erörtern 577. Wird § 216 bejaht, so sollte im Hinblick auf §§ 212, 211 kurz auf die Sperrwirkung eingegangen werden; gelangt man hingegen zu dem Ergebnis, dass der Tatbestand des § 216 nicht verwirklicht ist, sind §§ 212, 211 genauer zu prüfen. Eine andere Prüfungsreihenfolge kann freilich sinnvoll sein, wenn nach der Aufgabenstellung genauere Ausführungen zu §§ 212, 211 erwartet werden.
III.Tatbestand
1.Merkmale des Totschlags
207Zunächst müssen die allgemeinen Voraussetzungen eines Totschlagsvorliegen (Handlung, Erfolg, Kausalität und objektive Zurechnung). Fehlt es an der Kausalität oder objektiven Zurechung, kommt aber ein Versuch in Betracht 578. Ferner muss die Tatherrschaft beim Täter liegen, ansonsten ist lediglich straflose Beteiligung an einer Selbsttötung gegeben 579.
Bsp.:Der lebensmüde O fordert den T auf, ihm Gift zu beschaffen, was T auch tut. O nimmt das Gift und stirbt. – Es liegt zwar ein ausdrückliches und ernstliches Verlangen des Getöteten i. S. d. § 216 vor. Jedoch besaß T keine Tatherrschaft über den lebensbeendenden Akt, da O freiverantwortlich die zum Tod führende Handlung vornahm.
208Ob § 216 durch Unterlassenverwirklicht werden kann, ist streitig 580. Richtigerweise ist dies zu verneinen 581. Fordert der zur Selbsttötung Entschlossene den Garanten ernstlich auf, diesen nicht am Suizid zu hindern bzw. diesen nicht zu retten, so liegt die Tatherrschaft beim Suizidenten 582. Damit ist aber eine straflose Selbsttötung anzunehmen, an der nicht einmal eine Teilnahme möglich ist. Dann muss aber erst Recht eine Art „Nebentäterschaft“ 583durch Unterlassen ausscheiden. Im Übrigen kann man auch argumentieren, dass der Garant aufgrund des Selbstbestimmungsrechts des Suizidenten aus seiner Stellung entlassen wird, und daher keine Garantenpflicht zur Hilfeleistung mehr besitzt 584.
2.Ausdrückliches und ernstliches Verlangen
209Erforderlich ist stets, dass objektiv ein ausdrückliches und ernstliches Verlangen des Getöteten vorliegt.
210 a)Ein Verlangenist nur gegeben, wenn das Opfer auf den Willen des Täters einwirkt. Dieses kann sich auch an einen größeren, bestimmbaren Adressatenkreis (alle Ärzte einer Krankenstation, Pfleger eines Heimes usw.), dem der Täter angehört, richten 585. Die bloße Einwilligung des Opfers in ein Tötungsbegehren des Täters genügt jedoch nicht 586. Und erst Recht reichen bloße Vermutungen („mutmaßliches Verlangen“) nicht aus.
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