69 aa)Teilweise wird speziell für die Heimtücke eine Tatbestandslösungdergestalt vertreten, dass das Mordmerkmal überhaupt nur verwirklicht sein soll, wenn ein verwerflicher Vertrauensbruchvorliegt 202. Dem ist jedoch zu widersprechen, weil der Begriff des Vertrauens zu konturenlos ist und ansonsten besonders hinterhältige Angriffe mangels einer Vertrauensbeziehung zwischen Täter und Opfer nicht erfasst werden könnten 203.
70Andere Stimmen im Schrifttum gehen hingegen davon aus, dass zwar ein Mordmerkmal verwirklicht sein könne, dies für sich genommen aber noch nicht zur Anwendung des Tatbestandes des § 211 führe. Vielmehr müsse im Einzelfall geprüft werden, ob die Tat insgesamt als besonders verwerflich zu bewerten sei. Nach einer Auffassung soll dabei dem Gericht die Möglichkeit offen stehen, trotz Verwirklichung eines Mordmerkmals ausnahmsweise die besondere Verwerflichkeit der Tat im Wege einer Gesamtwürdigung von Tat und Täter und damit den Tatbestand des § 211 zu verneinen ( Lehre von der negativen Typenkorrektur) 204. Nach anderer Auffassung soll stets eine Gesamtwürdigung von Tat und Täter erforderlich sein, die positiv zur Feststellung einer besonderen Verwerflichkeit der Tötung und damit zur Anwendung des Mordtatbestandes führt ( Lehre von der positiven Typenkorrektur) 205. Gegen derartige Lösungsansätze lässt sich jedoch anführen, dass sie zu unbestimmt sind und daher kaum noch vorhersehbar ist, in welchen Fällen der Tatbestand des § 211 verwirklicht ist. Dies begegnet im Hinblick auf den in Art. 103 Abs. 2 GG verankerten Bestimmtheitsgrundsatz erheblichen Bedenken 206. Auch ist es dogmatisch wenig überzeugend, eine Gesamtwürdigung nach Strafzumessungsgrundsätzen bereits auf Tatbestandsseite vorzunehmen. Wer eine Berücksichtigung geringerer Schwere und Verwerflichkeit der Tat auf Tatbestandsseite befürwortet, sollte daher – worauf auch das BVerfG in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe bei der Heimtücke hingewiesen hat 207– eine restriktive Auslegung der jeweiligen Mordmerkmale vornehmen und nicht pauschal auf das Erfordernis einer wenig konturierten Verwerflichkeit der Tat verweisen 208.
71 bb)Während die vorgenannten Tatbestandslösungen bei allen Mordmerkmalen zur Anwendung gelangen sollen, hat der BGH speziell für den Heimtückemord einen abweichenden Weg eingeschlagen. Auch bei Vorliegen von außergewöhnlichen Umständen, die den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat vermindern, sei grundsätzlich an der Einstufung der Tat als Mord festzuhalten. Zur Wahrung der verfassungsrechtlichen Vorgaben soll aber im Wege einer Rechtsfolgenlösungim Einzelfall (contra legem) eine übergesetzliche Strafmilderung entsprechend § 49 Abs. 1 Nr. 1 in Betracht kommen 209.
Hinweis zur Fallbearbeitung:Soweit bereits eine gesetzliche Milderungsmöglichkeit – wie etwa beim Versuch nach § 23 Abs. 2 – besteht, bedarf es der übergesetzlichen Rechtsfolgenlösung zur Verhinderung übermäßiger Härten nicht.
(1)Die übergesetzliche Milderungsetzt nach Ansicht des BGH voraus, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen, aufgrund derer die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe als unverhältnismäßig zu bewertenist. Es muss sich demnach – wie in den sog. Haustyrannenfällen – um eine Tat handeln, die durch „eine notstandsnahe, ausweglos erscheinende Situation“ motiviert ist, die „in großer Verzweiflung“ begangen wurde oder ihren Grund „in einem vom Opfer verursachten Konflikt“ hat 210. Die Voraussetzungen sind deutlich höher als bei den allgemeinen Strafmilderungsgründen 211. Es reicht daher nicht jeder Entlastungsfaktor, der im Rahmen des § 213 Berücksichtigung finden würde, zur Annahme der Unverhältnismäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe aus. Vor allem darf aber auch nicht zu großzügig auf die Rechtsfolgenlösung ausgewichen werden 212. Eine abschließende Definition oder Aufzählung der außergewöhnlichen Umstände, die in Fällen heimtückischer Tötung zum Abweichen von der lebenslangen Freiheitsstrafe führen, ist freilich nicht möglich 213.
72 (2)Die Rechtsfolgenlösung muss sich allerdings Wertungswidersprücheentgegenhalten lassen 214. Denn über die analoge Anwendung des § 49 Abs. 1 Nr. 1, die zu einem Strafrahmen von drei bis zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe anstelle der lebenslangen Freiheitsstrafe führt, wird sogar die für § 212 vorgesehene Mindeststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe unterschritten und damit der Täter gegenüber einem Totschlag bessergestellt. Vermeiden lassen sich diese Ungereimtheiten nur, wenn man verlangt, dass das Gericht sich bei der Bemessung der Freiheitsstrafe hinsichtlich der Strafrahmenuntergrenze von der Wertung des § 212 leiten lässt und das dort genannte Mindestmaß nicht unterschreitet. Im Übrigen ist zu kritisieren, dass unklar bleibt, weshalb die Rechtsfolgenlösung nur beim Mordmerkmal der Heimtücke in Betracht kommen soll. Für Fälle der Habgier 215sowie des Handelns zur Befriedigung des Geschlechtstriebs und der Ermöglichungsabsicht 216hat der BGH die Rechtsfolgenlösung ausdrücklich abgelehnt, da insoweit eine Kollision mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht zu befürchten sei. Andererseits tendiert der BGH aber auch bei der Heimtücke immer wieder dazu, neben der Rechtsfolgenlösung bereits den Tatbestand restriktiv auszulegen 217.
73 c)Zur sachgerechten Lösungder Problematik könnte man zwar de lege ferenda daran denken, die Abschichtung zwischen Mord und Totschlag anhand anderer Mordmerkmale vorzunehmen 218. Eine solche Reform, die aktuell wieder diskutiert wird 219, ist aber weder in der Vergangenheit noch in anderen Rechtsordnungen überzeugend gelungen. Zur Lösung stehen daher im Prinzip nur zwei Wege bereit: Entweder nimmt man eine Flexibilisierung bei den Mordmerkmalen – etwa im Wege der Regelbeispielstechnik – vor 220. Oder man muss Korrekturen auf der Rechtsfolgenseite durch Auflösung der absoluten Strafandrohung vornehmen. An Stelle der lebenslangen Freiheitsstrafe müsste dann ein breiterer Strafrahmen treten, der dem unterschiedlichen Unrechts- und Schuldgehalt der in Betracht kommenden Tötungsdelikte besser gerecht wird.
2.Drei Gruppen von Mordmerkmalen
74Die 1. Gruppe (Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier, niedrige Beweggründe) und die 3. Gruppe (Ermöglichungs-, Verdeckungsabsicht) enthalten persönliche Mordmerkmale, die nach h. M. dem subjektiven Tatbestand zuzuordnen sind, da sie das Unrecht der Tat betreffen 221. Für sie gilt bei Täterschaft und Teilnahme § 28. Nach a. A. soll es sich insoweit um spezielle Schuldmerkmale handeln, auf die in Beteiligungsfällen § 29 Anwendung findet 222. Die 2. Gruppe (heimtückisch, grausam, mit gemeingefährlichen Mitteln) enthält hingegen Merkmale, die die Tatausführung betreffen und daher dem objektiven Tatbestand zuzuordnen sind.
75 a)Eine strikte Differenzierung zwischen objektiven und subjektiven Merkmalenist freilich zu pauschal, da auch die objektiven Mordmerkmale der 2. Gruppe subjektive Elemente enthalten 223. So liegt beim Mordmerkmal der Heimtücke die subjektive Komponente in dem Erfordernis einer „feindseligen Willensrichtung“ und beim Merkmal grausam in der notwendigen „unbarmherzigen Gesinnung“ des Täters. Aus Gründen des Sachzusammenhangs sollten die subjektiven Elemente jedoch bei der Prüfung des tatbezogenen Mordmerkmals im objektiven Tatbestand (und nicht etwa im subjektiven Tatbestand) geprüft werden 224.
Klausurhinweis:Das Vorliegen subjektiver Mordmerkmaleist sowohl beim vollendeten als auch beim versuchten Delikt im subjektiven Tatbestand bzw. Tatentschluss (nach a. A. in der Schuld) zu prüfen. Objektive Mordmerkmalesind beim vollendeten Delikt – wie auch sonst qualifizierende Merkmale – im objektiven Tatbestand zu prüfen; im subjektiven Tatbestand muss sich dann der Vorsatz nach allgemeinen Grundsätzen auf diese erstrecken. Ein verbreiteter Fehler ist es, im Rahmen des Versuchs zu prüfen, ob der Täter ein objektives Mordmerkmal tatsächlich verwirklicht hat. Denn beim Versuch kommt es allein darauf an, dass der Täter Tatentschluss hinsichtlich der Verwirklichung des Mordmerkmals besitzt und unmittelbar zur Tat ansetzt. Daher ist es z. B. nicht entscheidend, ob ein Mittel tatsächlich gemeingefährlich ist, sondern lediglich ob der Täter subjektiv davon ausgeht 225. Unzutreffend ist es ferner, wenn im Rahmen einer versuchten Tat objektive Mordmerkmale erst beim unmittelbaren Ansetzen geprüft werden.
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