Bsp.: 176T schlägt die O zunächst bewusstlos; anschließend verstümmelt er sie mit zahlreichen Stich- und Schnittverletzungen, bis diese tot ist. T wurde zu diesen Handlungen infolge heftiger Gemütsbewegung und durch hochgradige Erregung hingerissen. – Das Mordmerkmal „grausam“ liegt nicht vor, da O zum Zeitpunkt der Stichverletzungen bereits bewusstlos war, so dass T ihr keine zusätzlichen Schmerzen körperlicher Art zufügte, die über das für die Tötung erforderliche Maß hinausgingen. Auch handelte T aufgrund seiner Gemütsbewegung nicht aus unbarmherziger Gesinnung 177. Weil das Mordmerkmal „grausam“ gerade nicht verwirklicht ist, kann man (argumentum e contrario) folgern, dass der für die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe erforderliche Schweregrad nicht erreicht ist. Damit kann auch kein besonders schwerer Fall des Totschlags angenommen werden.
Einführende Aufsätze: Bosch , Niedrige Beweggründe, Jura 2015, 803; Bosch/Schindler , Ausnutzen der Wehrlosigkeit des Opfers zur Verdeckung einer peinlichen Situation – Heimtücke, Verdeckungsabsicht oder niederer Beweggrund?, Jura 2000, 77; v. Danwitz , Die Tötung eines Menschen mit gemeingefährlichen Mitteln, Jura 1997, 569; Fahl , Heimtücke gegenüber Kleinkindern, JA 1999, 284; Fünfsinn , Die Rechtsfolgenlösung zur Umgehung der lebenslangen Freiheitsstrafe bei Mord, Jura 1986, 136; Geppert , Zum Begriff der „Verdeckungsabsicht“ in § 211, Jura 2004, 242; ders ., Zum Begriff der „heimtückischen“ Tötung in § 211 StGB, vornehmlich an Hand neuerer höchstrichterlicher Rechtsprechung, Jura 2007, 270; Grünewald , Zur Strafbarkeit eines Mordes durch Unterlassen – erläutert an den so genannten tatbezogenen Mordmerkmalen der 2. Gruppe, Jura 2005, 519; Grunst , Irrtumsprobleme bei den Mordmerkmalen, Jura 2002, 252; Kargl , „Heimtücke“ und „Putativnotstand“ bei Tötung eines schlafenden Familientyrannen, Jura 2004, 189; Kaspar/Cornelius , Grundprobleme der Tötungsdelikte – Teil 1, ZJS 2013, 249 und Teil 2, ZJS 2013, 346; Köhne , Das Mordmerkmal „heimtückisch“, Jura 2009, 748; ders. , Die Mordmerkmale der dritten Gruppe, Jura 2011, 650; Kreuzner/Zetzmann , Der rachsüchtige Waffenfreund, ZJS 2011, 268; Küper , „Heimtücke“ als Mordmerkmal – Probleme und Strukturen, JuS 2000, 740; Mitsch , Grundfälle zu den Tötungsdelikten, JuS 1996, 26, 121, 213; ders. , Straftatverdeckung mit bedingtem Tötungsvorsatz als Mordversuch, JuS 1997, 788; ders ., Heimtückische Tötung von Neugeborenen, Säuglingen und kleinen Kindern, JuS 2013, 783; Otto , Neue Entwicklungen im Bereich der vorsätzlichen Tötungsdelikte, Jura 2003, 612; Rengier , Totschlag oder Mord und Freispruch ausgeschlossen? – Zur Tötung von (schlafenden) Familientyrannen, NStZ 2004, 233; Rotsch , Die Tötung des Familientyrannen: heimtückischer Mord? – Eine Systematisierung aus aktuellem Anlass, JuS 2005, 12; Schütz , Niedrige Beweggründe beim Mordtatbestand, JA 2007, 23; Theile , Verdeckungsabsicht und Tötung durch Unterlassen, JuS 2006, 110; Zaczyk , Das Mordmerkmal der Heimtücke und die Notwehr gegen eine Erpressung, JuS 2004, 750.
Übungsfälle: Bergmann/Kroke , Tod in den Wolken, Jura 2010, 946; Brunhöber , Das schreiende Baby, JuS 2011, 229; Dohmen , Karnevalsparty mit Folgen, Jura 2006, 143; Dreher , Ende einer Erpressung, JA 2005, 789; Ellbogen , Der Brand im Asylbewerberheim, Jura 1998, 483; Fahl , Heimtücke gegenüber Kleinkindern, JA 1999, 284; Hettinger , Der Fensterwurf, JuS 2011, 910; Hilgendorf , Fallsammlung, Fall 5: Ein Toter zu viel, S. 25; ders. , Fälle Examen, Fall 14: Die Autobahn-Werfer, S. 177; Hohmann , Ein Banküberfall mit Hindernissen, JuS 1994, 860; Linke/Steinhilber , Das Feuer der Liebe, JA 2010, 117; Marxen , Fall 2a: Onkel-Fall, S. 12; Miehe , Ein Ausbruch der nichts einbrachte, JuS 1996, 1000; Norouzi , Verdeckungsmord durch Unterlassen, JuS 2005, 914; Otto/Bosch , Fall 7: Eine Familientragödie, S. 160; Späte Reue, S. 77; Radtke , Ein Schlag mit Folgen, Jura 1997, 477; Rengier/Braun , Mörderische Liebe im Skiurlaub, JuS 2012, 999; Riemenschneider , Ein Beifahrer steigt aus, JuS 1997, 627; Schapiro , Auch guten Freunden traut man nicht, JA 2005, 116; Weißer , Tödliche Erlösung, JuS 2009, 135.
Rechtsprechung: BVerfGE 45, 187– Lebenslang (Notwendige Einschränkung der Mordmerkmale); BGHSt 7, 287– Verkehrsunfall (Verdeckung einer Straftat); BGHSt 7, 353– Lustmord (Befriedigung des Geschlechtstriebes); BGHSt 8, 216– Kleinkind (Heimtücke bei Kleinkindern); BGHSt 9, 180– Dorfschande (Verdeckung einer fremden Straftat); BGHSt 9, 385– Vollziehungsbeamter (feindselige Willensrichtung bei Heimtücke); BGHSt 11, 139– Jähzorn (Heimtücke bei Handeln im Affekt); BGHSt 11, 226– Notwehr (Verdeckungsabsicht bei nur vermeintlich begangener Straftat); BGHSt 15, 291– Verkehrskontrolle (Verdeckungsabsicht); BGHSt 19, 321– Arglosigkeit (Heimtücke); BGHSt 23, 120– Schlafender (Heimtücke bei Schlafenden); BGHSt 27, 281– Geschlechtsverkehr (Verdeckungsabsicht); BGHSt 27, 346– Prostituierte (Verdeckungsabsicht); BGHSt 28, 77– Stieftochter (Verdeckungsabsicht); BGHSt 28, 210– Bahnhofswartesaal (Heimtücke); BGHSt 30, 105– Türkischer Onkel (Rechtsfolgenlösung bei Heimtücke); BGHSt 32, 382– Gefesselte Liebe (Zeitpunkt der Arglosigkeit); BGHSt 33, 363– Verbalattacke (Heimtücke nach vorherigem Wortgefecht); BGHSt 34, 13– Hausbrand (Gemeingefährliches Mittel); BGHSt 34, 59– Bahnhofsklo (Mordlust); BGHSt 35, 116– Zeitschriftenwerber (Verdeckungsabsicht); BGHSt 38, 353– Pistole (gemeingefährliches Mittel); BGHSt 39, 159– Erdrosseln (Ermöglichungsabsicht); BGHSt 41, 8– Betrogener Drogendealer (Verdeckungsabsicht bei außerstrafrechtlichen Konsequenzen); BGHSt 46, 73– Versicherungsbetrug (Ermöglichungsabsicht) BGHSt 47, 128– Obdachlose (niedrige Beweggründe bei frustrationsbedingter Aggression); BGHSt 48, 207– Überraschter Erpresser (Arglosigkeit bei Heimtücke); BGHSt 48, 255– Familientyrann (Heimtücke); BGHSt 49, 189– Massenerschießung (Grausamkeit); BGHSt 50, 80– Kannibale I (Befriedigung des Geschlechtstriebs); BGHSt 64, 111– Mitleid (feindselige Willensrichtung bei der Heimtücke); BGH, Beschluss vom 14. April 2020 – 5 StR 93/20, BeckRS 2020, 9044 – Brandlegung (gemeingefährliches Mittel bei Mehrfachtötung); BGH NStZ 2016, 469– Kannibale II (Rechtsfolgenlösung).
I.Geschütztes Rechtsgut und Systematik
61§ 211 schützt ebenfalls das Rechtsgut Leben. Die Rechtsprechung stuft dabei § 211 gegenüber § 212 noch als selbstständige Abwandlung (delictum sui generis) und damit als eigenständigen Straftatbestand ein 178. Zur Begründung führt sie vor allem an, dass beide Tatbestände einen jeweils eigenständigen Unwertgehalt beinhalten 179. Diese Ansicht, die inzwischen auch durch ein obiter dictum des 5. Strafsenats des BGH immerhin ins Wanken geraten ist 180, ist jedoch wenig überzeugend, weil dahinter eine „metaphysische Vorstellung“ 181von der besonderen Schwere des Mordes steht. Auch streitet hierfür nicht der Wortlaut des Gesetzes, der noch aus der Zeit des Nationalsozialismus stammt und die Tätertypen „Totschläger“ und „Mörder“ verwendet 182. Die überwiegende Ansicht im Schrifttum sieht § 211 mit Recht als Qualifikationstatbestand zu § 212 an, da die Mordmerkmale zum Totschlag hinzutreten und daher die Strafe des Totschlags schärfen. Zwischen beiden Delikten besteht ein quantitatives Stufenverhältnis 183. Im Falle der Verwirklichung von Mordmerkmalen ist daher lediglich ein graduell höherer Schweregehalt der Tat gegeben.
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