Abb. 1: Galileo Galilei vor der Inquisition (1857). Gemälde von Christiano Banti (1824–1904). Carpi, Privatsammlung. – © Wikimedia Commons
Im Palast des Florentinischen Gesandten in Rom warten Andrea, Federzoni, der kleine Mönch und Virginia auf das Ergebnis des Prozesses gegen Galilei. Während seine Schüler Hoffen auf die Standhaftigkeit Galileis hoffen, dass Galilei selbst unter Folter an seiner Lehre festhält und damit der Wahrheit zum Sieg verhilft, betet Virginia, dass er widerrufen möge und damit sein Seelenheil gerettet ist. Ein Agent der Inquisition teilt mit, dass man den Widerruf Galileis erwarte, der unter Glockenläuten öffentlich ausgerufen werde. Als das Glockenläuten zunächst ausbleibt, sind die Schüler überglücklich, weil sie glauben, Galileis Standhaftigkeit sei die »Geburtsstunde« einer »Zeit des Wissens« (S. 112). Umso größer ist ihre Enttäuschung, als die Glocke zu läuten beginnt und der Enttäuschung der Schüler und HelferWiderruf Galileis verlesen wird. »Unglücklich das Land, das keine Helden hat!« (S. 113), sagt Andrea, als Galilei, völlig verändert durch den Prozess, eintritt, und er beschimpft ihn, weil ihm Leben und Genuss wichtiger waren als die Wahrheit. Dieser antwortet: »Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.« (S. 114)
Galilei lebt seit seinem Widerruf als Gefangener der Inquisition Gefangener der Inquisition mit seiner Tochter in seinem Landhaus in der Nähe von Florenz. Obwohl seine Sehschwäche weiter fortgeschritten ist, arbeitet er als Wissenschaftler weiter und diktiert seine Ergebnisse seiner Tochter, die sie an einen Mönch weitergibt, der Galilei bewacht. Als jemand zwei gerupfte Gänse vorbeibringt, wird deutlich, dass Galilei trotz seines Alters immer noch leibliche Genüsse schätzt. In wöchentlichen Briefen, die er Virginia diktiert, kommentiert er Fragen und Zitate des Erzbischofs im Sinne der Kirche. Vier Jahre nach dem Widerruf besucht ihn Andrea Sarti im Auftrag eines Amsterdamer Astronomen. Andrea ist auf dem Weg nach Holland, um dort wissenschaftlich zu arbeiten. Der ehemalige Schüler verhält sich zunächst kühl und frostig. Galilei erfährt, dass durch seinen Auswirkungen des Widerrufs Widerruf die Wissenschaft der Astronomie einen Rückschlag erlitten habe. Als Andrea und Galilei allein sind, kann Galilei offen reden: Er habe die »Discorsi« (S. 121) vollendet, heimlich eine Abschrift angefertigt und im Globus versteckt. Er Übergabe der »Discorsi«übergibt sie Andrea, damit dieser sie nach Holland schmuggeln kann. Andrea ändert nun schlagartig sein Urteil über Galilei. In dem feigen Widerruf sieht er nun eine List, um an einem wissenschaftlichen Werk weiterzuarbeiten. Er Andrea rechtfertigt den Widerruf nimmt seine moralische Verurteilung aus der Einsicht zurück, auch »auf dem Felde der Ethik« sei Galilei seinen Schülern »um Jahrhunderte« (S. 122) vorausgewesen.
In schonungsloser Selbstkritik gesteht aber Galilei, dass er nicht eine Strategie verfolgt habe, sondern aus Angst vor dem »körperlichen Schmerz« (S. 123) widerrufen habe. Andrea rechtfertigt aber auch dieses Motiv, weil Todesangst »menschlich« sei und letztlich nur der »wissenschaftliche[] Beitrag« (S. 124) zähle. Dem widerspricht Galilei: Der »Zweifel«, der zur Erkenntnis führt, richte sich nicht nur gegen überlieferte falsche Lehrmeinungen, sondern auch gegen die politisch-gesellschaftlichen Ordnungen, die Ursache für das »Elend der Vielen« (S. 124 f.) seien. Das »einzige Ziel« der Soziale Verantwortung der Wissenschaft Wissenschaft bestehe darin, »die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern« (S. 125). Wenn Wissenschaftler sich dieser Verantwortung entziehen, liefern sie ihre Erkenntnisse an Machthaber aus, so dass der wissenschaftliche Fortschritt ein »Fortschreiten von der Menschheit weg« (S. 125) ist. Seinen Selbstverurteilung als Verräter Widerruf beurteilt er als »Verrat« an der Wissenschaft und ihrer Möglichkeit der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Als Andrea, bestürzt durch diese »mörderische Analyse« (S. 127), zögert, Galilei zu verlassen, fängt dieser an, die zubereiteten Gänse zu essen.
In einer kleinen italienischen Grenzstadt wartet Andrea auf die Kontrolle seiner Papiere und seines Gepäcks durch einen Grenzwächter und dessen Schreiber. Er sitzt vor einem Schlagbaum auf einer kleinen Kiste und liest im Andrea schmuggelt die »Discorsi«Manuskript der »Discorsi«. Drei kleine Jungen interessieren sich für den Gelehrten und beobachten, wie der Schreiber eher lustlos in einem von Andreas Büchern blättert und die Kiste zunächst nicht beachtet. Zwei der Jungen glauben, dass in einem Haus in der Nähe eine Hexe wohnt, welche die Kiste verzaubert habe. Nachdem der Schreiber oberflächlich in den Büchern in der Kiste herumgewühlt hat, darf Andrea mit seinem Kutscher, der die Kiste trägt, die Grenze passieren. Einer der Jungen behauptet, die Kiste sei verschwunden, der Teufel habe sie mitgenommen. Andrea macht dem Aberglaube und richtiges Sehen abergläubischen Jungen deutlich, dass er lernen müsse, »die Augen aufzumachen« (S. 131). Ein anderer Junge, der die alte Frau nicht für eine Hexe hält, fragt Andrea, ob Hexen mit einem Stock durch die Luft fliegen können. Dazu bräuchte man eine Maschine, sagt ihm der Gelehrte, und man wisse jetzt noch nicht, ob eine solche jemals erfunden werde: »Wir wissen bei weitem nicht genug […]. Wir stehen wirklich erst am Beginn.« (S. 131)
Brecht folgt in der Auswahl und Konstellation der Historische und erfundene Figuren Figuren weitgehend den historischen Ereignissen, weicht aber teilweise in der Gestaltung des Handlungsverlaufs und der Rolle, welche die Figuren in einzelnen Szenen spielen, von den Fakten ab. So macht er Cosimo II., den Großherzog der Toskana, bei dessen Regierungsantritt um zehn Jahre jünger und erfindet eine Begegnung mit Galilei vor dessen Verhaftung, obwohl der Großherzog damals längst gestorben war. Galileis Lieblingstochter Virginia trat bereits mit 16 Jahren in ein Kloster ein und starb 1634, die Verlobung mit Ludovico und die Pflege und Überwachung des Vaters während seines Hausarrests sind ebenso frei erfunden wie die Figur seiner Haushälterin und deren Sohn Andrea, der kleine Mönch oder der Eisengießer Vanni. Profilierung der HauptfigurDie erfundenen Figuren dienen der Profilierung der Hauptfigur und der szenischen Gestaltung des zentralen Themas: der Rolle und Funktion von Wissenschaft und Erkenntnis in gesellschaftlichen Verhältnissen, die von Macht, Unterdrückung und ideologischer Manipulation geprägt sind.
Brecht zeigt in seinem Stück die Titelfigur nicht in einem inneren Konflikt, der zum Entschluss des Widerrufs führt, sondern stellt ihre Verhaltensweisen versus innere Konflikte Verhaltensweisen in entscheidenden Situationen dar. Wenn Brecht während der langen Arbeit an den verschiedenen Fassungen des Stücks Galileis Widerruf immer negativer beurteilt und ihn schließlich zum Verbrecher erklärt, dann ist das kein moralisches Urteil über ein individuelles Verhalten, sondern zeigt die Bedeutung des Verhaltens für die Entwicklung der Wissenschaft und ihre Indienstnahme durch die verschiedenen Machthaber im geschichtlichen Prozess. Diesen Prozess und seine Mechanismen für die Zuschauer durchschaubar zu machen, war für Brecht die Aufgabe des Theaters »im wissenschaftlichen Zeitalter«5. Nicht für den »psychologischen« Fall Galilei soll sich der Zuschauer interessieren,6 sondern für die politisch-gesellschaftlichen und ideologischen Zusammenhänge, in denen die Figuren agieren.
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