Das Graben wird schneller, hektischer. Gleichzeitig lässt die Kraft nach, die Stöße verlieren an Wucht, immer weniger Erde wird mit jedem Spatenschwung beiseite geschleudert. Der verschwitzte Körper krampft sich bei jedem Donnergrollen zusammen und bückt sich instinktiv unter jedem kreischend grellen Blitz.
Und dann fallen die ersten Regentropfen nass und schwer und gefühlt so groß wie Kinderfäuste. Im Licht des nächsten Blitzes sehen die Flecken ihres Aufpralls auf dem Boden kreisrund und schwarz aus, als regnete die Nachtfinsternis wie zähe Tinte vom Himmel.
Die Person keucht vor Angst und Anstrengung. Die Bewegungen mit dem Spaten werden immer fahriger und ungenauer.
Die Tropfen folgen schneller aufeinander, dichter, nasser, fester. In der entstandenen Grube wird es rasch sumpfig. Wie zu erwarten war, saugt sich das klebrige Erdreich auch schon an den Stiefelsohlen fest und erschwert jeden Schritt.
Dann ist da ein Stein, der weißlich leuchtend im dunklen Morast auftaucht. Gerade da, wo es sich bis jetzt noch fast mühelos graben ließ. Die Person stößt einen lauten Fluch aus. Egal, im sich ausbreitenden Tosen am Nachthimmel wird das niemand hören.
Der Spaten kratzt mehr und mehr von der Oberfläche des Steins frei. Die Regentropfen tanzen darum und peitschen die nasse Erde auf. Der Versuch, die Kante des Spatenblatts unter den Rand des Hindernisses zu schieben, um es aus der Tiefe heraufzuhebeln, misslingt, das Metall rutscht immer wieder ab. Der Stein ist groß, viel größer als alle anderen, die hier in der Erde geschlummert haben. Groß und rund, mit vom Lehm verklebten Vertiefungen. Unsere Person stürzt mit lautstarken Verwünschungen auf die Knie, das schlammige Wasser, das sich bereits in der Grube gesammelt hat, spritzt auf. Das ist egal. Alles ist egal! Es muss hier und jetzt zu Ende gebracht werden! Hier ist der ideale Platz, und dies ist die letzte Gelegenheit!
Die Finger wühlen sich durch den Morast, versuchen, die Form des Steins zu umfassen, eine Stelle zu finden, an der man ihn packen und aus der Erde reißen kann.
Und dann offenbart der nächste Blitz in gnadenloser Deutlichkeit am Rand des Steins eine Reihe von Zähnen, die ein obszönes, halbes Grinsen aus der Tiefe zu unserer Person heraufschicken.
Dem nun folgenden schrillen Aufschrei folgt eine Schockstarre, in der im Bruchteil einer Sekunde die ganze Situation in ihre deutlich erkennbaren Einzelteile zersprengt wird. Dort die verpackte Leiche in der Folie, hier das halb ausgehobene Grab und da der menschliche Schädel, um den munter gluckernd das braune Regenwasser herumspringt.
In diesem Augenblick geben sich Blitz und Donner endgültig die Hand und brüllen gemeinsam durch die Nacht. Und tief unter ihnen kauert eine erbarmungswürdig zitternde Menschengestalt in einer finsteren, schlammigen Vertiefung, und das, was ihr jetzt über die Wangen rinnt, ist nicht mehr nur der Schweiß, und es ist auch nicht nur der Regen. Es sind heiße Tränen der Enttäuschung und der abgrundtiefen Mutlosigkeit.
Schon das Hinweisschild an der Straße zwischen Tondorf und Engelgau erzählte eine Geschichte. Eine sehr alte Geschichte. Freie Tankstelle – mehr stand nicht darauf. Nichts Ungewöhnliches auf den ersten Blick. Aber sowohl die verblichene Farbe – ein mulmiges, mattes Graublau – und die Schrift – schnörkellose, weiße Blockbuchstaben mit dunkelgrauem Schlagschatten – als auch der rötlich schillernde Rost, der sich seit einer halben Ewigkeit von den Kanten der Metallplatte her beständig ins Zentrum hineinfraß, all das ließ jeden Autofahrer keinen Gedanken daran verschwenden, hier rechts abzubiegen. Die große, moderne Tankstelle in Blankenheim hatte man gerade erst passiert, die nächste in Engelgau war bereits in erreichbarer Nähe. Kein Mensch würde auf den Gedanken kommen, hier den Blinker zu setzen und das Steuer herumzudrehen, um auf dem buckligen Wirtschaftsweg nach einer Tankstelle zu suchen, die es doch eigentlich nicht mehr geben konnte. Das Schild war ein Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit, aus den Tagen, als hier noch nicht die A1 das Land zerschnitt. Hier konnte heute einfach keine Tankstelle mehr stehen. Auch das Sackgassenschild gleich daneben bestätigte das. Diese schmale Straße mit dem zerrütteten Asphalt hatte ehedem einmal nach Nettersheim geführt, vorbei an ein paar verstreut stehenden Häusern, einem Aussiedlerhof und einer Tankstelle. Ein paar der Gebäude waren in den Siebzigern dem Autobahnbau geopfert worden. Daher konnte eigentlich auch diese Tankstelle heute unmöglich noch regulär betrieben werden. Wahrscheinlich war sie längst dem Erdboden gleichgemacht worden. Das hatte Herbie jedenfalls immer geglaubt.
Er dachte daran, dass dieser Tag einige Stunden zuvor durchaus vielversprechend angefangen hatte. Ein echter Sommertag, nicht zu heiß und nicht zu kühl. Über ihm ein freundlicher, blauer Himmel mit ein paar gemächlich dahinziehenden Wolken. Herbie war unschlüssig gewesen, ob er zum Baden an die Maare oder an den Freilinger See fahren sollte. Julius hatte dazu nur sehr verächtlich etwas von Luxusproblem gemurmelt.
Doch dann hatte sich dieser Tag mit einem Schlag verfinstert. Seit Herbie denken konnte, hatte ein Anruf seiner Tante Hettie noch nie irgendeinen Anlass zur Freude gegeben.
Warum gehst du dann trotzdem immer wieder ran? Julius saß wie immer auf dem Rücksitz und betrachtete gelangweilt seine Fingernägel.
»Weil ich die Hoffnung einfach noch nicht aufgegeben habe. Die Hoffnung darauf, dass ich irgendwann ihre Nummer im Display sehe, mit einem Klick die Verbindung herstelle und am anderen Ende statt des schrillen Gekeifes meiner Tante eine dunkle, sehr gefasst klingende Männerstimme höre. Jemanden, der etwas Ähnliches sagt wie: Bitte verzeihen Sie die Störung, aber Ihre Nummer wurde zuletzt von diesem Gerät aus angerufen. Sind Sie Verwandtschaft von Frau Hellbrecht? Oh, der Neffe? Hm, wir müssen Sie leider davon in Kenntnis setzen, dass Ihre Tante ganz plötzlich von uns gegangen ist.«
Julius schnaubte amüsiert. Optimist .
»Was bleibt mir denn sonst übrig?«
Der schmale Weg wand sich um eine kleine Anhöhe. Links war die riesige Brachfläche am Autobahnende zu erkennen, auf der vor einigen Jahrzehnten die Stürme Vivian, Wiebke und welche zarten Frauennamen sie noch alle gehabt haben mochten, alles brachial abgeholzt hatten. Inzwischen war dort zwar wieder aufgeforstet worden, aber die Bäume waren noch mickrig, die Spuren der Verwüstung immer noch deutlich zu erkennen.
Herbie vermutete, dass sie sich auf ihrem Weg ungefähr in die Richtung der großen Wildbrücke bewegten, die ein paar Jahre zuvor mit enormem Aufwand über die A1 geschlagen worden war.
Wo hatte seine Tante ihn jetzt nur wieder hinzitiert? Was tat sie nur hier in diesem abgelegenen Winkel?
»Irgendwann werde ich mit Inbrunst die Disteln und Brennnesseln auf ihrem Grab gießen. Aber bis dahin beiße ich die Zähne zusammen und tanze nach ihrer Pfeife.«
Du könntest doch so lange ins Ausland gehen. Die Identität ändern, Pigmente spritzen und die Nase operieren lassen .
»Die findet mich überall, egal in wen ich mich verwandle. Und vor allem verwaltet sie mein gesamtes Geld. Ich bin von diesem alten Drachen abhängig, Julius. So wie die Tulpe von der hässlichen Zwiebel.«
Julius schnaubte. Absurder Vergleich .
Herbies Zwiebel kam mit einem Mal in Sichtweite. Die kleine, alte Frau im fliederfarbenen Sommermantel saß im Schatten der großen, flachen Überdachung auf einem Klappstuhl vor dem Tankstellengebäude und hatte die Hände über dem Knauf ihrer orientalischen Krücke gefaltet. Wohin ihr Blick gerichtet war, verbarg eine Sonnenbrille mit grotesk großen Gläsern. Zu ihren Füßen schnüffelte ein extravagant zurechtfrisierter Pudel auf dem ölfleckigen Pflaster bei den Zapfsäulen herum.
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