Kein Bestreben nach Mythisierung, keine Gesten der Theatralität. Spektakulär sind allein die Flugeinlagen, die Zusammenstöße, die Abwehraktionen – das Hochsteigen und Zugreifen, das Fallen und Abrollen –, die in einer Art Galerie von Schnappschüssen bereits am Anfang signalisieren, daß es hier nicht um eine Narration, einen kondensierten Bildungsroman geht, sondern um eine weitenteils aus Tages- und Flutlichtspielausschnitten montierte Anordnung von körperlichen Abläufen, die sich selbst deuten. Kunter hechtet beim Training in die Weitsprunggrube, und schlägt er mal, jenseits des eigenen Übungspensums, eine Flanke, stürzt er unbeholfen. Doch als jener Figur, die auf dem Platz nicht gestaltet, aber waghalsig das Schlimmste, Gegentreffer nämlich, verhindert, wächst ihm, dem Vereinzelten, der sogar in der Kabine von den Mitspielern getrennt zu sein scheint, jene Verantwortung zu, die im heutigen Diskurs über den Stellenwert des Torwarts allgegenwärtig ist.
Der Verzicht auf einen gesprochenen Kommentar läßt die herauspräparierten Spielszenen zuweilen wie unter Glas erstarren. »Die methodische Raffung und Ballung von Aktionen, der konsequente Verzicht auf Kommentar, das alles überzeugt mich«, lobte Ror Wolf No 1 , Joachim Krecks Pioniertat, die bis heute nur Insidern ein Begriff ist. Die Dialektik von Untätigkeit und Eingreifen, von angespanntem Warten und plötzlich geforderter, nicht selten gefährlicher Präsenz wurde hier erstmals adäquat filmisch konturiert, indem der Fußballsport bewußt reduktionistisch und gerade deshalb erkenntnisfördernd gänzlich auf die Rolle des letzten Mannes zugeschnitten blieb.
Selbst wenn Kunter am Spieltag auf den Rasen des Waldstadions trabt, wirkt er, in die Totale gerückt, einen kurzen Augenblick isoliert. Das Motiv der Einsamkeit, durchgeführt im Wechselspiel von Nähe und Distanz, von Close-Up und Totale, dementiert die gängigen Vorstellungen von der Notwendigkeit der harmonischen Mannschaftsfügung, von der sozialintegrativen Modellhaftigkeit des Fußballs.
»Das Individuum überschreitet sein gemeinsames Sein, um es zu verwirklichen; man ist nicht Tormann oder Läufer, wie man Lohnarbeiter ist. Die Funktion als gemeinsames Sein ist unbestimmte Bestimmung«, heißt es in einer unter sog. Fußballintellektuellen nicht ungern zitierten Passage aus Jean-Paul Sartres Kritik der dialektischen Vernunft (dt. Reinbek 1967). Und im weiteren sieht sich die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem, von Zwang und Freiheit im Konzept der geglückten Vergesellschaftung (auf dem Platz) aufgehoben: »Wenn sich die praktische Spannung lokkert, ohne daß sich die Gruppe deshalb auflöst, so begreift das gemeinsame Individuum in der organisierten Gruppe seine Funktion als seine gemeinsame Besonderheit.«
Wo Joachim Kreck ebendieses Moment der dem Fußball idealiter immanenten Vermittlung von Individuum und Sozietät wenn nicht unterläuft, so doch bezweifelt, hebt Ror Wolfs zwei Jahre später, am 6. November 1975 im ZDF urgesendeter und 54 Minuten langer Kamerafilm Keep Out die unauflösliche Devianz des einzelnen hervor, indem er über einen Ausschnitt aus der Karriere des linken Außenstürmers Thomas Rohrbach berichtet, der von 1970 bis 1975 bei Eintracht Frankfurt angestellt war.
Spielerporträt, Psychogramm, Dokumentation – das alles mag Wolfs experimentelle Exkursion ins oder durchs Leben dieses Außenseiters sein. Sie ist darüber hinaus der Versuch, mit Worten und bewegten Bildern in das Seelenleben des Fußballs einzudringen – oder die Grenzen zu erkunden, an denen ein formiertes, eingesperrtes, indes nicht gänzlich vom Betrieb unterworfenes Individuum schließlich zu zerschellen droht.
Rohrbach agiert in Keep Out auch als Schauspieler und als authentischer Erzähler in eigener Sache. »Bring mich doch endlich hier weg«, hört man den begnadeten, in seiner letzten Saison am Riederwald weitgehend zum Bankdrükker degradierten Dribbler gegen Ende resigniert aus dem Off sagen. »Es gibt nur eine Möglichkeit – verkaufen. Ich werd’ nicht mehr benötigt.« Das ist die Quintessenz eines Berufslebens. Trainer Dietrich Weise gibt »diesen Typen« – »Leuten, die aus der Eigenart nicht herauskönnen« – »kaum noch Chancen, im Leistungsfußball eine Rolle zu spielen«. Der »Anforderung von der Öffentlichkeit«, wie es einer der von Ror Wolf auch in seinen Fußballhörspielen verewigten Kiebitze ausdrückt, der Doktrin, sich innerhalb der »Mannschaft als geschlossener Einheit« zu assimilieren, hat der Pastorensohn aus Bad Hersfeld nicht Genüge geleistet.
Und trotzdem: Rohrbach beharrt noch angesichts seiner Zurückstufung darauf, »in den Kreis der gutbezahlten Spieler« aufgenommen zu werden. Wolf gesellt dieses Statement, die Linearität filmischer Erzählungen suspendierend, im Finale seines Abgesangs auf einen im Konkurrenzkampf Unterlegenen zu surreal anmutenden Bildern eines alptraumartigen Panoptikums aus Tierpräparaten. Die Ereignisse rund um Ball und Mensch kulminieren in der Erstarrung, der Ausweglosigkeit. »Ich hab’ mich draußen gefühlt.«
In selten offener Weise hat sich Ror Wolf zu den Intentionen geäußert, die er mit Keep Out zu verfolgen gedachte. »Daß der Fußball gegenwärtig einer der wichtigsten Bereiche der Unterhaltungsindustrie ist, muß kaum mehr diskutiert werden«, merkte er an. »Ein paar Funktionäre, die in ihren Festreden diese Monumentalshow noch immer in die Weihezone eines keuschen Idealismus hineinreden wollen, stören da nicht. Auch sie wissen, was gespielt wird. Der Interessenzuwachs aus Gruppen, die vorher im weitesten Sinn sportuninteressiert waren, ist unverkennbar. Er hat sich vor allem durchs Fernsehen ergeben. Die Ballstars sind erst Stars geworden durch das Fernsehen, durch ihre genormten Auftritte, durch die gebügelten Worte […]. Der Film beginnt dort, wo die unter Zeitdruck entstandenen Spielberichte aufhören […]. Das zentrale Thema des Films ist nicht etwa der Alltag eines Fußballspielers, sondern die gesellschaftlich-soziologische Situation eines Außenseiters. Es geht darum, das Verhältnis eines Menschen zu einer Gruppe zu analysieren, von der er in jeder Beziehung abhängig ist, doch deren Gesetzen und Regeln er sich nicht anpassen will.«
Für sein zweites Fußballbuch, Die heiße Luft der Spiele (Frankfurt/Main 1980), hat der Mehrfachverwerter Wolf aus den mit der Nr. 11 geführten Interviews den Prosatext »Rohrbachs Geschichte« destilliert, ja einen monologischen Block gefertigt, der gegenüber der filmischen Montage der Brechung durch andere Stimmen und damit der kaleidoskopartigen Auffächerung entbehrt. In Keep Out werden die Konflikte zwischen Spieler, Mannschaft, Trainer und Publikum deutlicher betont. Zwar gilt Rohrbachs repetitiver Klagerede – »Also, ich fühl’ mich beschissen und allein«, »Ich leide unter dem Druck«, »Es gibt Samstage, da kotzt es mich total an«, »Das ist ein sehr harter Kampf, da ist man einsam«, »Diese Gemeinschaftsfahrten waren schlimm« – Wolfs ungeteilte Sympathie, und bisweilen wirkt Rohrbach, »satt vom Rollenspiel«, in seiner tiefen Kümmernis wie ein Bruder des von Wolf verehrten legendären Kornettisten Bix Beiderbecke; doch die Konfrontation von Subjektivität oder Innenwelt und Außenwelt oder Fremdwahrnehmung nimmt breiteren Raum ein. Der Rentner Heinz, dem man etwa in den Hörspielen Heinz, wie ist deine Ansicht? und Expertengespräche wiederbegegnen wird, bringt diesen Zustand der perspektivisch zersplitterten, kakophonischen Wahrheitsartikulationen aus dem Off unwillentlich prägnant zum Ausdruck: »Ich steh’ uff dem Standpunkt, er is’, wollemal sagn, man meint grad, er wär’ wetterbedingt.«
Rebell und Reservist – die Collage Keep Out wird dem Wetterwendigen, Windigen ihres Objekts auch formal gerecht, indem Wolf Bild- und Tonspur asynchron anlegt. »So jagen sich pausenlos Jump-Cuts auf Bild- und Tonspur«, erläutert Jan Tilman Schwab, »fragmentarisierte Ausschnitte aus Fußballspielen und Trainingseinheiten wechseln mit sich überschlagenden Wort- oder Satzfetzen aus Interviews und Radioübertragungen, die mitunter auch stehendes Bild und Zeitlupenaufnahmen begleiten.« Allerdings werden die assoziativ oszillierenden Bild-Ton-Kompositionen durch diverse (Spiel-)Szenen kommentiert, die allzu plakativ sinnbildlich und symbolisch aufgeladen Interpretationen präjudizieren – etwa wenn Rohrbach im Paternoster abwärts und sein Nachfolger aufwärts fährt oder eine zum Abbruch freigegebene Villa unter dumpfen Schlägen zu zerfallen beginnt. Die einen gemahnte das an Buñuel, andere, wie beispielsweise der ZEIT -Kritiker Momos (i. e. Walter Jens), bemängelten die »Happening-Beliebigkeit« derartiger manieristischer »Mätzchen« aus einer »Kitsch- und Traum- und Fluchtwelt«.
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